Rezension

Rudolf Frhr. Hiller von Gaertringen: Raffaels Lernerfahrung in der Werkstatt Peruginos. Kartonverwendung und Motivübernahme im Wandel, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 1999,
Buchcover von Raffaels Lernerfahrung in der Werkstatt Peruginos
Christoph Wagner: Farbe und Metapher. Die Entstehung einer neuzeitlichen Bildmetaphorik in der vorrömischen Malerei Raphaels, Berlin: Gebr. Mann Verlag 1999,
Buchcover von Farbe und Metapher
rezensiert von Eva-Bettina Krems, Institut für Kunstgeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster

Die vorrömische Schaffensphase Raffaels erfreut sich derzeit eines großen Interesses in der kunsthistorischen Forschung. Noch vor 10 Jahren war der 1983 (am 500. Geburtstag des Künstlers) laut gewordene und mehrmals mit Nachdruck wiederholte Appell, sich dem Frühwerk zuzuwenden, in der Renaissance-Forschung ohne große Resonanz verhallt. Es schien lange so, als gäbe es lediglich das Für- und Wider einer Früh- oder Spätdatierung der Pala Colonna oder eine Zu- oder Abschreibung der kleinen Kreuzigung aus Sao Paolo zu diskutieren. Der frühe Raffael schien sich Forschungsaspekten, die jenseits der Attribution und Datierung liegen, zu entziehen. Seit 1993 sind nun über sieben eigenständige Buchpublikationen zur umbrischen und Florentiner Schaffensphase erschienen, und die deutschsprachige Raffael-Forschung spielt in diesem 'Frühzeit-Boom' die Hauptrolle. Es bleibt lediglich zu hoffen, dass diese Beiträge auch im nicht-deutschsprachigen Raum rezipiert werden (zumal nicht jede Publikation eine parallele englische Edition offerieren kann).

Dies gilt nun insbesondere für die Publikationen von Christoph Wagner und Rudolf Hiller von Gaertringen. Beide Bücher gehen auf die Dissertationen der Autoren zurück. Christoph Wagner (Saarbrücken) hat über die Farbe im vorrömischen Werk Raffaels geschrieben, Rudolf Hiller von Gaertringen (Tübingen) widmete sich der Werkstattpraxis, insbesondere der Kartonverwendung bei Perugino und Raffael. Die Gemeinsamkeiten der beiden Bücher erschöpfen sich nicht darin, dass sie beide aufwändig und erlesen in sehr ansprechenden (und dementsprechend teuren) Buchausgaben erschienen sind (bei Wagner hätten es, dem Thema zuliebe, noch einige farbige Abbildungen mehr sein dürfen; in Hillers Buch ist nicht nur eine große Anzahl von Abbildungen im Text verteilt, sondern er hat einige erhellende grafische Umsetzungen der Kartonvorlagen beigefügt, die ein Verständnis der diffizilen Materie erleichtern). Beide Publikationen fokussieren denselben Schaffenszeitraum (1495 bzw. 1500 bis 1508); beide nehmen, im weitesten Sinne, formalästhetische Kriterien in ihr Blickfeld; beide Autoren halten es für würdig und wichtig, die Forschungsdiskussion der letzten beiden Jahrhunderte, als wissenschafts- und rezeptionsgeschichtliches Phänomen, eigens in langen Kapiteln darzulegen. Doch hier verabschieden sich langsam die Gemeinsamkeiten. Die Annäherung an den vorrömischen Raffael könnte bei Wagner und Hiller kaum unterschiedlicher ausfallen, doch umso spannender und aufschlussreicher ist eine parallele Lektüre. Das Ziel bleibt schließlich - um es unangemessen verkürzt zu sagen - ein gemeinsames (wenn auch nicht ein neues oder gar überraschendes): Beide Autoren wollen die Abkehr von den künstlerischen Errungenschaften des Quattrocento, insbesondere von Peruginos Werken, transparent machen, zum einen von der farbigen Gestaltung, zum andern von der Figurenkonfiguration und Komposition. Dabei begegnet bei beiden Publikationen zuweilen ein kleines methodisches Manko, welches gleichwohl angesichts der Fülle an Material nicht weiter verwundert: Es ist die Erhellung des werkspezifischen Kontextes, der sehr selten reflexartig aufscheint und dann wie ein nur schwer integrierbarer Appendix begegnet.

Zunächst zu Christoph Wagners Farbe und Metapher: Sein Anliegen besteht darin, "zum Verständnis der Komplexität und der historischen Dynamik der visuellen Kultur" beizutragen, ohne auf die üblichen schematischen stilgeschichtlichen Unterteilungen zurückgreifen zu müssen. Hauptreferenz bildet das Kolorit. Drei Bereiche für die Deutung des Farbigen sind von großer Wichtigkeit: die antiken Traditionen der Farbe, die Farbmetaphorik der Poesie und Literatur, und das sinnlich-sittliche Potential in der anschaulichen Wirkung der Farbe selbst. Die spätmittelalterliche christliche Farbmetaphorik wird dabei nicht aufgegeben. Wagner will vor allem zeigen, dass es zur Zeit Raffaels keine color conventions gibt, keinen Kanon symbolisch vorbestimmter Farbbedeutungen, fehle es doch der einzelnen Farbe an farbsymbolischer Eindeutigkeit. So ist also der Blick auf die Bilder Raffaels das wichtigste Deutungskriterium: Raffaels Farben sind "mit Bezug auf die farbikongraphische Referenzebene erst aus der farbmetaphorischen Deutung der innerbildlichen Zusammenhänge zu verstehen". Wagners These lautet, Raffael habe durch die Ausbildung einer konsequent auf den thematischen Gehalt und dessen anschauliche Deutung bezogenen Farbigkeit eine Bildsprache erarbeitet, in der die großen künstlerischen Aufgaben und Themen der abendländischen Malerei in paradigmatischer Weise neu gestaltet sind. Die These, Raffael sei der große Neuerer der Kunst gewesen, beschäftigt die Forschung seit unzähligen Jahrzehnten. Wagner fokussiert nun eines der wenigen noch verbleibenden Kriterien einer absoluten, ja paradigmatischen Neuerung, nämlich die Farbe. Lässt man sich auf die von Wagner vorgegebene Sicht auf die Bilder ein, so wird in der Tat die Abkehr des jungen Malers von den Errungenschaften seines Lehrers Perugino, in diesem Fall die Abkehr von dessen Buntfarbigkeit, sehr deutlich, eben jene Buntfarbigkeit, die die bisherige Forschung in den frühen Werken Raffaels noch zu entdecken glaubt.

Doch damit ist nur ein zentrales Thema bei Wagner angesprochen, denn in erster Linie geht es ihm um die Darlegung, dass Raffael die Farbe als "Metapher" einsetzt. In neuer Weise verlange Raffaels Farb- und Bildmetaphorik dem Betrachter eine auf alle visuellen Aspekte seiner Malerei bezogene Syntheseleistung ab; diese Metaphorik setze eine umfassende anschauende Beteiligung des Betrachters zum thematischen Verständnis voraus (was bei Raffael freilich ein nicht neuer Forschungsgedanke ist). Von großem Wert in Wagners Ansatz ist dabei, dass sein Blick und seine Analyse der Farbe nicht in der phänomenologisch-hermeneutischen Ausrichtung, sozusagen in der "reinen Anschauung" und sprachlichen Erfassung, verbleibt, sondern daß er versucht, zwischen Bildthema, Ikonographie und farbiger Gestaltung ein enges Wechselverhältnis herzustellen. Und dieses Bemühen macht seine Ausführungen - mögen sie auch gelegentlich sehr ausschweifen - ausgesprochen erkenntnisreich, nicht zuletzt weil die Anschaulichkeit seiner Sprache den visuellen Phänomenen gerecht werden kann. Mit einer Einschränkung: Wagners Terminologie verlangt streckenweise eine mühsame Dekodierung von Seiten des Lesers, etwa wenn man in die musiktheoretischen Regionen des "Spaltklangs" und "Schmelzklangs" geführt wird.

Programmatisch für seine Methode stellt Wagner gleich an den Anfang eine durchaus attraktive Deutung der wohl als Pendants fungierenden enigmatischen Täfelchen des so genannten Traums eines Ritters und der Drei Grazien. Diese Deutung - diametral entgegengesetzt der berühmten und langlebigen Deutung von Panofksy - baut in der Tat auf farbanalytischen Beobachtungen auf, bezieht nichtsdestoweniger aber auch weitere visuelle Phänomene mit ein, um der Deutung als Traum des Edelmanns (etwas zögerlich) zeitgenössische literarische Quellen zur Seite zu stellen. Eindeutig zu kurz kommt der zeitgenössiche Kontext, der sich nicht in literarisch-poetologischen Quellen mitteilt. Die Auftraggeberfrage wird für die Deutung solch enigmatischer Täfelchen gerade in einer politisch hochbrisanten Zeit wohl kaum unerheblich gewesen sein.

Aspekte der Farbmetaphorik in Abgrenzung zur konventionellen christlichen Farbsymbolik werden im Folgenden mit genauer Kenntnis der zeitgenössichen Quellen erörtert: Erstaunlich ist das farbmetaphorische Potential bei Lodovico Dolce, in neuer Weise tritt die sinnliche Wirkung der Farbe in den Vordergrund, aber auch die mit der Farbe in der Natur verbundenen Phänomene und lebensweltlichen Erfahrungen, und schließlich eine von poetischen Metaphern abhängige Auslegung. Doch muss man bei Wagner lange auf die Analyse der Werke warten: Zuvor wird auf hohem theoretischem Niveau die "Abnutzung und Verhärtung der Bildmetaphorik durch ihre Rezeption" ins Auge gefasst und dazu angeregt, der Erblast der "klassisch" gewordenen Kunst mit einer erneuerten Diskussion zu begegnen - aber eben nicht ohne vorher die vorausgegangenen Schichten der Rezeption kritisch zu reflektieren. Letzteres wird dann auch ausgiebig (nahezu 100 Seiten lang) vollzogen, dabei das eigentliche Ziel - Raffaels Farbe - aus den Augen verloren. Sehr instruktiv ist zweifelsohne Wagners verengender Blick auf das in der Kunstliteratur genannte Kolorit, eben jener Aspekt, der oft überlesen oder als selbstverständlich hingenommen wird.

Dann endlich (etwas spät, dafür aber umso ausführlicher) rücken die Bilder ins Blickfeld: Sich methodisch auf Burckhardt berufend, gliedert Wagner seine Analyse des vorrömischen Werks nach "Aufgaben": Madonnenbilder ('Zur Bildmetaphorik des Göttlichen'), Porträts ('Raphaels Blick auf den Menschen'), Heilige Familien, Altarbilder ('Vom Spaltklang zum Schmelzklang') und Historien. Nur sehr knapp wird auf den Wortlaut von Verträgen verwiesen. Es erscheint deshalb zu knapp, weil vorher mit aller Ausführlichkeit das Urteil der Kunstliteraten über Raffaels Farbe behandelt wurde, welches freilich nicht einer gewissen künstlich-ästhetisch überfrachteten Schieflage entbehrt. Dagegen wäre in den Verträgen sozusagen die Alltagswelt etwas mehr ans Tageslicht gerückt.

Ein für Wagners Fragestellung enorm wichtiges künstlerisches 'Dokument' ist die Madonna del Baldacchino, deren geringer Ausführungsgrades erlaubt, einen ungefähren Zeitraum zu ermitteln, wann und wie Raffael von den monochromen Helldunkelwerten der Zeichnung zu den Buntwerten seiner Malerei gefunden hat. Raffael fand, so Wagner, unmittelbar zur Farbe, das heißt er hat während der Ausführung des Gemäldes von der Vorzeichnung der Umrisslinien und von wenigen Vortuschungen aus schon in der Untermalung ins Farbige gewechselt, eine Beobachtung, die Wagner an weiteren vorrömischen Werken bestätigt sieht. Diese Arbeitspraxis einer buntfarbigen Untermalung hat Raffael bis ins Spätwerk beibehalten. Von großem Interesse ist dieses Ergebnis vor allem deshalb, weil sich hier die seit Vasari verbriefte enge Anlehnung Raffaels an Fra Bartolomeo und Leonardo, auch betreffend des Werkprozesses, kritischer gesehen werden muss.

Dem Kapitel über die Madonnenbilder schickt Wagner die Prämisse voraus, dass dem Vorurteil einer vermeintlichen Profanierung des Gottesbildes bei Raffael entgegengearbeitet werden müsse; stattdessen sei vor dem Hintergrund einer differenzierten theologischen Sichtbarkeitsmetaphorik diese Wandlung auch als theologisches Argument zu verstehen. Dieses "theologische Argument" näher zu spezifizieren, beispielsweise mit Hilfe der Verortung der Bilder in einem bestimmten Kontext, verfolgt Wagner jedoch nicht. Vielmehr verbleibt er innerhalb der immanenten farbmetaphorischen Deutung, mit einigen Ausflügen zu stilkritischen Anmerkungen. Die Versuche, Chronologien mit Hilfe der Koloritanalyse zu erstellen, sind in manchen Punkten überzeugend - wenn auch höchste Aufmerksamkeit geboten ist beim Verfolgen von Wagners Ausführungen, um den (nicht überraschenden) Entwicklungsgang des künstlerischen Vermögens Raffaels in seiner vorrömischen Zeit, der zu einer dezidierten Verlebendigung des Bildgeschenes führen wird, einzig aus den Möglichkeiten seiner Farbmetaphorik zu erleben. In diesem Zusammenhang seien nur Wagners überlegungen zum Chiaroscuro erwähnt, insbesondere zur Frage, ob Farbe als eine an das Dingliche gebundene Lokalfarbe, also als Substanz der Oberflächen der Körper oder als Akzidenz dem Licht zuzurechnen sei.

Bei den Porträts wird wiederum vorangestellt (für Wagners folgende Ausführungen unabdingbar), dass sich wechselseitige Verbindungen von sittlichen Aspekten und sinnlichen Kategorien der Kunst in schriftlichen Quellen wiederfinden und damit eine Basis für eine spezifisch neuzeitliche Farbmetaphorik liefern: sie diene, so Wagner, der anschaulichen Deutung des Menschen und seines 'unsichtbaren' Inneren. Die Farbe ist auch hier integrativer Bestandteil zur Deutung der Bildniskunst (vor dem Hintergrund des verosimile freilich eine wenig überraschende Entdeckung). Indessen geht Wagner der Frage nach, wo sich in Raffaels Farb- und Bildmetaphorik die Grenze zwischen der Darstellung des Göttlichen und Menschlichen bestimmt, in einer Zeit der gegenseitigen Annäherung beider in der anschaulichen Form des Menschlichen. Spezifische Farbkonstellationen, die sich nur im Bildnis oder nur im Madonnenbild wiederfinden, seien dabei schon 'auf den ersten Blick' festzustellen. Hilfreich ist es (und wurde vom Leser bei den Madonnenbilder schmerzlich vermisst), dass Wagner hier auch auf den Kontext der Entstehung der Bildnisse eingeht, in diesem Fall meist auf die mit den jeweiligen Porträtierten verbundenen poetischen Metaphern.

Dass auf die Porträts das Kapitel mit den Darstellungen der Heiligen Familie folgt, begründet Wagner mit den vom Thema vorgegebenen Möglichkeiten: Die Heilige Familie umfasse auf engstem Raum eine Totalität menschlicher Beziehungen, in deren formaler und thematischer Differenzierung ein Künstler auch außerhalb der historia die Universalität seiner Malerei unter Beweis setzen konnte. Wohl aus diesem Grunde begegnen hier bei Wagner umfangreiche Analysen der Bildkomposition und Figurenkonfiguration. Doch münden seine Untersuchungen des Kolorits der heiligen Familien in den grundlegeden überlegungen zur (nur allenfalls ansatzweise vorhandenen) systematischen Ordnung der Farben um 1500. Man treffe laut Wagner bei Raffael zwar nicht auf eine durchgängig konsolidierte universalfarbige Ordnung des Farbigen, doch finde sich durchaus eine bis dato nicht gekannte Systematisierung der Farben. In diesem Kapitel geht Wagner am anschaulichsten den vergleichenden Weg, finden sich doch in der Florentiner Malerei des ausgehenden Quattrocento wichtige Vorläufer für Raffaels Farbenkanon, den Wagner schließlich als "Rationalisierung der Farbordnung" charakterisiert.

Zunehmende Reglementierung diesmal von Seiten der Auftraggeber findet sich auch in dem Aufgabenbereich der Altarbilder, die im nächsten umfangreichen Kapitel unter Zuhilfenahme von musiktheoretischen Begriffen betrachtet werden. Demnach sei der historische Prozess der Veränderung des koloristischen Klangideals in der Malerei vom späten 15. ins frühe 16. Jahrhundert als Wechsel vom Spaltklang zum Schmelzklang, d.h. als Abkehr von der quattrocentesken varietà und Hinwendung zur cinquecentesken unione del colorito zu beschreiben. Dieser Wandel sei an den Altarbildern in besonders evidenter Weise abzulesen, ja mehr noch: Wagner untermauert anhand dieser Analyse der Koloristik beispielsweise die Frühdatierung der Pala Colonna.

Der Blick auf die Historien schließt Wagners Ausführungen; hier präsentiert sich Raffael als "Poeta mutolo", als stummer Dichter, wie ihn Lodovico Dolce beschreibt. Dolces ästhetische Kriterien zur Untermauerung dieses Urteils bereichert Wagner mit der schon von Kurt Badt und Rudolf Preimesberger vorgeschlagenen mutmaßlichen Kenntnis Raffaels der Poetik des Aristoteles. In manchen Passagen von Wagners Ausführungen mag nun die Verbindung zwischen Aristoteles, der historia im Verständnis Albertis, der Darstellung eines komplexen Geschehens in seiner Prozessualität und schließlich dem Kolorit etwas gewollt erscheinen, und man fragt sich, ob man diese Verbindung letztlich herstellen muss. Die "visuelle Kultur", die Wagner häufig benennt, bliebe auch transparent, wenn man sie nicht in ihre Einzelheiten zerlegt. Man hätte sich vom Autor wünschen können, die Vielfalt seiner Ausführungen am Ende gebündelt zu sehen, auch wenn das Werk Raffaels, das schon in so vielen Publikationen als das Schlüsselwerk der vorrömischen Zeit stilisiert wurde - die Grabtragung -, auch bei Wagner einen würdigen Beschluss bietet.

Hiller von Gaertringens Studie erscheint gegenüber Wagners Blick in die poetologischen Verflechtungen farbmetaphorischer Aspekte wie ein nüchternes Eindringen in die prosaischen Entstehungsumstände von Bildwerken um 1500. Doch offeriert Hiller eine ausgesprochen umfassende und weit über das Umfeld von Raffaels Frühzeit hinaus gehende Studie, die sowohl Einblick in Werkstattpraktiken wie auch in Künstler-Selbstformungsprozesse und -strategien liefert. Der immer wieder anhand hervorragend sprechender Beispiele belegte und für den Leser nachvollziehbare Prozess der Bildentstehung wird umso anschaulicher, als der Autor gleichermaßen den Lehrer wie den Schüler unvoreingenommen ins Auge fasst. Peruginos künstlerischer Werdegang wird ebenso analytisch (wenn auch manchmal in allzu großen Schritten) verfolgt, wie die zunehmende Abgrenzung von Seiten des hochbegabten Schülers. Dass diese Abkehr jedoch nicht, wie bereits mehrfach geschehen, rein stilkritisch mit Blick auf kompositorische Bildstrukturen verfolgt wird, sondern auf die Anwendung von Kartons und das Verhältnis von Unterzeichnung und ausgeführtem Werk ausgedehnt wird, lässt diese Publikation zu einem wichtigen Beitrag zur Frage von Raffaels vorrömischer Prägung werden.

Hillers Buch ist sehr übersichtlich in drei große Kapitel aufgebaut und eignet sich neben dem Einblick in das Studium des frühen Raffael in gleicher Weise für das Studium kunsttechnologischer Fragen und Begrifflichkeiten, wobei in diesem Auseinanderdriften von Aspekten eine kleine Schwachstelle des Buches liegen könnte, der sich - etwas unverständlich - vielleicht auch der ein wenig irreführende Buchtitel verdankt. Dieser Titel, die "Lernerfahrung", bezieht sich hauptsächlich auf das erste Kapitel, welches die Frage nach der Lehrzeit Raffaels im Atelier Peruginos und dezidiert die Perspektive des Lehrers untersucht. Letzteres kommt bei Publikationen zum frühen Raffael immer zu kurz. Sehr ausführlich, vielleicht auch zu ausführlich wird das so häufig diskutierte Problem des Zeitpunkts erörtert, wann Raffael in die Werkstatt Peruginos eintrat. Hiller plädiert überzeugend anhand historischer Quellen, genauer stilkritischer Analysen und nicht zuletzt schon mit Blick auf die reproduktive Kartonverwendung, die ungefähr zeitgleich in Peruginos Atelier aufgetreten sein muss, für einen sehr frühen Eintritt Raffaels in die Werkstatt des umbrischen Meisters, nämlich um 1494/95.

Umso mehr wird Hillers Argumentation durch die nachfolgenden Kapitel gestützt, die sich allgemein auf die Kartonverwendung im Werkstattbetrieb um 1500 konzentrieren. Die Einbettung Raffaels in diesen fein organisierten Umgang mit technischen Hilfsmitteln mag zwar durchaus an der Vorstellung vom Genie des divino pittore kratzen, jedoch lässt einerseits die übernahme spezifischer Werkstattpraktiken aus dem Atelier Perugino und andererseits die Umformung derselben auf ein nicht zu unterschätzendes künstlerisches "Genie" schließen. Hillers Versuche, die Art dieser Kartonverwendung zu rekonstruieren, stoßen allein schon deshalb auf Hindernisse, weil sich nur eine verschwindend geringe Anzahl von Kartons erhalten haben. Dass es bei manchen Werken wirklich einen vorbereitenden Karton gegeben haben könnte, versucht der Autor zwar nicht selten anhand anderer Indizien zu beweisen (und sein Indizien-Apparat aus Röntgen-, Infrarotaufnahmen etc. ist beeindruckend!), wird aber oft letztlich offenbleiben müssen. Indessen wird Hillers These zu Raffaels Werkgenese in Abgrenzung zur durchaus reproduktiven Verwendung von Kartons bei Perugino anschaulich: Raffaels (mutmaßlich häufige) Verwendung des Kartons ist nur Teil eines sehr komplexen, dynamischen Prozesses der Bildfindung, ja sie sei als programmatische Gegenposition zu Peruginos Kartonwiederholung zu verstehen. Raffaels Gebrauch des Kartons innerhalb der Werkgenese huldigt weniger dem Anspruch oder der mutmaßlichen Erwartung des Auftraggebers - modo e forma -, sondern vielmehr dem "modernen" künstlerischen Anspruch nach ausgefeilter individueller inventio, in der es freilich in erster Linie um Originalität geht. Und dieser Anspruch findet sich ja durchaus gespiegelt in der sich innerhalb von Raffaels Auftraggeberschaft wandelnden Klientel.

Rudolf Hiller von Gaertringen und Christoph Wagner haben zeitgleich Studien über exakt denselben Schaffenszeitraum eines Künstlers publiziert. Wie eingangs erwähnt, ist ihr jeweiliger Blick auf den vorrömischen Raffael, ungeachtet der gemeinsamen Zielrichtung, sehr unterschiedlichen methodischen Kriterien unterworfen. Doch liefern beide Studien, quasi komplementär, eine Reihe von neuen Erkenntnissen, die der Forschung zum frühen Raffael wichtige Impulse geben wird. Und schließlich sei ein gemeinsames Ergebnis noch betont: Während allgemein unter Kunsthistorikern eine schwindende Begeisterung für formalästhetische Phänomene von Bildwerken zu beobachten ist, regen beide Bücher auf ihre je eigene Weise dazu an, sich den Bildern selbst, also den Originalen, wieder intensiver zu widmen!


Eva-Bettina Krems

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Empfohlene Zitierweise:

Eva-Bettina Krems: Rezension von: Rudolf Frhr. Hiller von Gaertringen: Raffaels Lernerfahrung in der Werkstatt Peruginos. Kartonverwendung und Motivübernahme im Wandel, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 1999
Christoph Wagner: Farbe und Metapher. Die Entstehung einer neuzeitlichen Bildmetaphorik in der vorrömischen Malerei Raphaels, Berlin: Gebr. Mann Verlag 1999
in: KUNSTFORM 2 (2001), Nr. 2,

Rezension von:

Eva-Bettina Krems
Institut für Kunstgeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster

Redaktionelle Betreuung:

Peter Helmberger