Rezension

Anna Schreurs: Antikenbild und Kunstanschauungen des neapolitanischen Malers, Architekten und Antiquars Pirro Ligorio (1513-1583). , Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2000,
Buchcover von Antikenbild und Kunstanschauungen des neapolitanischen Malers, Architekten und Antiquars Pirro Ligorio (1513-1583)
rezensiert von Maximilian Schich, Projekt Dyabola, München

Pirro Ligorio, der Nachfolger Michelangelos in der Opera di San Pietro, verfaßte zwischen 1534 und 1583 insgesamt über 40 handschriftliche Bände zur Altertumskunde. Darunter findet sich neben Büchern zu einzelnen Themen auch eine 18 Bände umfassende alphabetische Enzyklopädie zur Altertumswissenschaft. Es ist wohl nicht übertrieben, bei dem Gesamtwerk von einer Art privatem Handbuch der Altertumswissenschaften bzw. Reallexikon im Stile der RE zu sprechen. Leider wurden nur wenige der handschriftlichen Aufzeichnungen publiziert. Dies führte dazu, daß Ligorios Werke relativ unbeachtet geblieben sind. Dazu kommt die Tatsache, daß der Antiquar im ausklingenden neunzehnten Jahrhundert zur Zeit der Hochblüte der positivistischen Archäologie, aufgrund seiner oft sehr weitreichenden (Re-)Konstruktionen den Ruf eines hemmungslosen Fälschers erhält, dessen umfangreiche Schriften es nicht wert seien, beachtet zu werden. Diese Ansicht wird bereits Anfang der sechziger Jahre von Mandowsky und Mitchell relativiert, indem sie zwar in Anbetracht ihrer Untersuchungen zu dem Ergebnis kommen, daß man bei Ligorios Aussagen über antike Monumente oft die Spreu nicht vom Weizen trennen könnte, es aber in vielen Fällen nützlich oder sogar notwendig sei, seine Werke zu konsultieren. Die Denunziation Ligorios von Seiten der frühen Klassischen Archäologie halten sie für den klugen Schachzug einer Wissenschaft, der Ligorios Schriften aufgrund ihrer ungeheuren Masse nur schwer zugänglich sind. Folglich erfüllt Schreurs ein dringendes Desiderat, da sie mit ihrer hier vorgestellten Arbeit genau diesen Zugang erheblich erleichtert. In einer sehr umfassenden und präzisen Quellenuntersuchung arbeitet sie verschiedene Gründe und Zielsetzungen von Ligorios antiquarischer Tätigkeit heraus. Damit liefert sie zusätzlich zum rein praktischen Zugang zu den Handschriften auch eine Bewertungsgrundlage für die altertumswissenschaftlich relevanten Aussagen des Antiquars.

Das Buch ist in sieben Kapitel unterteilt und enthält darüber hinaus einen umfangreichen Quellenteil. Auf die knappe Einleitung folgt zunächst eine ausführliche Einführung in die antiquarischen Manuskripte. Neben einer Aufstellung von Ligorios Werken geht die Autorin dabei auf die zeitgenössische Bewertung sowie die spätere Rezeption der Manuskripte ein, um schließlich Ligorios Motivation zu behandeln. Forschenden, die in Ligorios Werken nach Gegenständen suchen, die bei Schreurs unbehandelt bleiben, kann die Lektüre dieses Abschnitts dringend empfohlen werden, da hier neben dem überblick über die in Ancona, Neapel, Paris und Turin verstreuten Handschriften auch einige Erläuterungen zu Ligorios enzyklopädischer Technik gegeben werden.

In zwei großen, biographisch betonten Kapiteln zu Ligorios Tätigkeiten als Antiquar in Rom sowie als Künstler am päpstlichen Hof wird ein detailliertes Bild der sozialen Strukturen gezeichnet, in denen sich der Neapolitaner bewegte. Daneben zeigen sie, welche Auswirkungen diese auf seine Arbeit gehabt haben. Schreurs belegt hier erstmals, daß Ligorio offenbar schon vor seiner Ankunft in Rom Antikenstudien in seiner Heimatstadt Neapel vorgenommen hat und legt dar, wie er über die verschiedenen Akademien in den 40er-Jahren des 16. Jahrhunderts das heiße Pflaster der römischen Gelehrtenwelt betritt. äußerst ausführlich werden im folgenden zahlreiche soziale Verwicklungen dargestellt: Vom Gelehrtenstreit mit Bartolomeo Marliano, über Ligorios Rolle beim Bau des Neptunbrunnens in Bologna sowie der Attika von St. Peter bis zum kurzen Gefängnisaufenthalt, der Ligorios Karriere in Rom einen Knick versetzt. Abgeschlossen werden die beiden Kapitel mit der Darlegung von Ligorios scheiternden Versuch vom Este-Hof in Ferrara, an dem er nach 1568 weilte, nach Rom zurückzukehren.

Es folgen die beiden zentralen Kapitel der Dissertation zu Kunstanschauungen und Antikenbild des Neapolitaners. Beide Kapitel sind in zwei weitere Unterkapitel unterteilt. Der erste Abschnitt zu den Kunstanschauungen handelt von Ligorios Traktat "über die Erhabenheit der antiken Künste", das im Anhang komplett in Umschrift abgedruckt und damit der Forschungsöffentlichkeit zugänglich gemacht ist. Schreurs erläutert in diesem Zusammenhang Ligorios Haltung gegen die zeitgenössische Kunstszene und dessen Forderung einer strengen Nachahmung der Antike, die sich die Künstler anhand der Werke sowie der von ihm vorgestellten Literatur aneignen sollen. Im zweiten Abschnitt des Kapitels stehen Ligorios kunstkritische Kommentare im Mittelpunkt. Dabei behandelt Schreurs sowohl diejenigen Künstler, die Ligorio des Verstoßes gegen die Regeln der Antike beziehungsweise der Natur bezichtigt, als auch diejenigen, die er für besonders nachahmenswert hält. Dabei ist vor allem die erste Gruppe interessant, da Schreurs hier namhafte Künstler identifizieren konnte, die Ligorio zwar offen kritisiert, aber mit Ausnahme seines Hauptgegners Michelangelo mit einer Art damnatio memoriae belegt.

Das Kapitel zum Antikenbild des Antiquars handelt von den antiken Künstlern, die hier von Schreurs zum ersten mal gebündelt behandelt werden, sowie von den wichtigsten Skulpturen in Rom, anhand derer sie zu zeigen versucht, welche Eigenschaften der antiken Kunst Ligorio in seinen Schriften besonders hervorheben wollte. Bezüglich der antiken Künstler stellt Schreurs fest, daß Ligorio deren Nachfolge fordert, da diese im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen in bescheidener Art und Weise mit strengen Regeln nach der Natur gearbeitet hätten. Im zweiten Abschnitt werden schließlich einzelne antike Skulpturen vorgestellt, die Ligorio für besonders nachahmenswert hält. Dabei ist durchaus interessant, daß hier heute unbekanntere Werke wie der Herkulesknabe mit der Schlange aus den Uffizien weit vor Ikonen wie dem Dornauszieher rangieren.

Im letzten Kapitel geht Schreurs noch einmal auf Ligorios strenge Forderung nach dem gelehrten und tugendhaften Künstler ein. Seine Schriften sieht sie schließlich als Ausdruck eines starren Klassizismus, der einer Weiterentwicklung der Kunst entgegensteht.

Im Anhang finden sich einerseits eine Einführung zu den antiquarischen Manuskripten Ligorios, die neben den betreffenden Ausführungen im zweiten Kapitel für jede weitere Forschung essentiell ist, sowie andererseits alle zitierten Quellen in Originalsprache. Der komplette Anhang ist wie ein zweiter Band behandelt und enthält folglich ein separates Inhaltsverzeichnis. Die Einführung zu den antiquarischen Manuskripten enthält neben der Darlegung des Datierungsproblems auch eine Auflistung der Bände, der die von Ligorio behandelten Themen wie "diversi Tempij" oder "Medaglie" entnommen werden können. Dies erscheint wichtig, weil weder im Quellenteil noch im knappen Register alle bei Ligorio vorkommenden Monumente beziehungsweise Monumentgattungen genannt werden. Im Quellenteil finden sich "lediglich" die autobiographischen Textpassagen, Stellen zu Ligorios Zeitgenossen, der oben genannte Traktat, Stellen zu den antiken Künstlern sowie zu den im Text besprochenen Skulpturen. Angesichts der oft schwer lesbaren Schrift Pirro Ligorios ist diese Quellensammlung ein unschätzbares Verdienst der Autorin. Aufgrund des Umfangs von Ligorios Werk, kann eine komplette Konkordanz nicht Aufgabe der Dissertation sein. Dennoch soll hier angesprochen werden, daß nach wie vor das dringende Desiderat besteht, die Schriften Pirro Ligorios besser zugänglich zu machen. Forschenden muß hier vor allem der von Arnold Nesselrath herausgegebene Census of Antique Art and Archtitecture Known to the Renaissance ans Herz gelegt werden, der auch im Internet zugänglich ist. Hier werden im Rahmen eines groß angelegten Projekts nach und nach alle bei Ligorio besprochenen Monumente verzeichnet werden. Daneben sind der Vollständigkeit halber auch die von Venetucci herausgegebenen Kommentare zu Einzelbänden Ligorios zu nennen.

Die Ausstattung des hier besprochenen Bandes kann abgesehen vom Inhaltsverzeichnis als vorbildlich bezeichnet werden. Das Buch ist haltbar gebunden, ansprechend gestaltet und die zahlreichen hervorragenden Abbildungen stehen in guter Relation zur jeweiligen Textstelle. Die beiden Inhaltsverzeichnisse sind zu lang und unübersichtlich.

Abschließend läßt sich festhalten, daß Schreurs ein umfassendes Bild der Figur Pirro Ligorio zeichnet, das manchmal etwas zu positiv erscheint, aber eine ausgezeichnete Grundlage zur weiteren Beschäftigung mit seinen Schriften bietet. Weder die Kunstgeschichte der Renaissance noch die Klassische Archäologie wird an dem vorliegenden Buch vorbeikommen. "Schreurs' Ligorio" sollte in keiner Bibliothek der beiden Fächer fehlen.


Maximilian Schich

zurück zu KUNSTFORM 2 (2001), Nr. 2

Empfohlene Zitierweise:

Maximilian Schich: Rezension von: Anna Schreurs: Antikenbild und Kunstanschauungen des neapolitanischen Malers, Architekten und Antiquars Pirro Ligorio (1513-1583). , Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2000
in: KUNSTFORM 2 (2001), Nr. 2,

Rezension von:

Maximilian Schich
Projekt Dyabola, München

Redaktionelle Betreuung:

Jan Mohr