Rezension

Susanne Tauss: Dulce et decorum?. Der Decius-Mus-Zyklus von Peter Paul Rubens, Osnabrück: Universitätsverlag Rasch 2000,
Buchcover von Dulce et decorum?
rezensiert von Christine Göttler, University of Washington, Seattle

Die in flämischen Ateliers im 16. und 17. Jahrhundert hergestellten Tapisserien sind in jüngster Zeit erneut in das Blickfeld einer interdisziplinär orientierten kunsthistorischen Forschung gerückt (Rubenstextiel, Katalog der Ausstellung im Hessenhuis, hrsg. von Guy Delmarcel et al., Antwerpen1997; Guy Delmarcel, Flemish Tapestries, New York 2000). An den aus Wolle oder Seide hergestellten Tapisserien, in die manchmal auch Gold, Silber, Perlen und Diamanten eingearbeitet wurden und die oft als "kamers" (Ausstattungen für einzelne Räume) verkauft wurden, lässt sich beispielhaft die materielle Kultur der städtischen und höfischen Gesellschaft im frühneuzeitlichen Europa erforschen. Traditionell mit einem aristokratischen Lebens- und Ausstattungsstil verbunden, wurden Tapisserien mit biblischen, historischen, allegorischen und mythologischen Darstellungen seit dem späteren 16. Jahrhundert zunehmend auch von wohlhabenden, frisch geadelten Kaufleuten zum Schmuck ihrer Stadtpaläste erworben. Als besonders kostspielige Ausstattungsstücke verwiesen sie auf den hohen Rang der Auftraggeber, wie sie auch deren Geschmack und humanistische Bildung demonstrierten. Die feinsten Tapisserien wurden in Brüsseler Werkstätten gewoben und dann, häufig über in Antwerpen ansässige Zwischenhändler, ins Ausland verschickt. Nach einem längeren, durch die religiösen und politischen Unruhen des späten 16. Jahrhunderts bedingten Stillstand erlebte der Handel mit Tapisserien seit dem zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts in Brüssel und Antwerpen eine neue Blüte.

Rubens, dessen Großvater und Onkel mütterlicherseits ebenfalls im Textilhandel tätig waren, hatte die Entwürfe zu mindestens vier Teppichfolgen geschaffen. Die Decius Mus-Gemälde (seit 1693 im Besitz der Sammlungen des regierenden Fürsten von Liechtenstein) sind seine frühesten Teppichkartons. Nach dem Vertrag, der im November 1616 zwischen dem genuesischen Kaufmann Franco Cattaneo, dem Tapisseriehersteller Jan Raes und dem Textilhändler und Humanisten Frans Sweerts abgeschlossen wurde, bildeten Rubens' Gemälde die Webvorlagen für ursprünglich zwei Teppichserien. Diese sollten in der berühmten Werkstatt von Raesin Brüssel produziert und dann über Cattaneo in Antwerpen an "alcuni gentiluomini genovesi" geliefert werden. Tauss gelingt es nun erstmals, zumindest einen dieser "genuesischen Aristokraten", in deren Auftrag die Tapisserien hergestellt wurden, aufgrund archivalischer Dokumente zu identifizieren. Es handelt sich dabei um Giovanni Battista Brignole, der Bruder des weit berühmteren Giovanni Francesco Brignole, der 1635 als erster in der Familie zum Dogen ernannt wurde. Giovanni Battista baute 1616-18 eine Villa "mit gigantischen Ausmassen" in Albaro, die in unmittelbarer Nachbarschaft zur Villa seines Bruders lag. Beide Brüder besaßen zudem Palastbauten an der Strada Nuova, dem neuen städtischen Adelszentrum in Genua. Die Brignole sind folglich ein Musterbeispiel einer neureichen und neuadligen Familie, der am Anfang des 17. Jahrhunderts auch der Aufstieg zur politischen Spitze gelang.

Tauss kann darüber hinaus auch die Motivation für die Wahl dieses bis zu Rubens' Zyklus ungewöhnlichen Themas historisch begründen. Das exemplum des römischen Plebejers spielte in den politischen Auseinandersetzungen zwischen den Adelsfraktionen der Vecchi und Nuovi in Genua um 1600 eine entscheidende Rolle. Mit dem Hinweis auf die devotio des homo novus, der für seine Vaterlandsliebe bis in den Tod ging, haben Stoiker wie auch frühneuzeitliche Humanisten den Vorrang des Verdienstadels vor dem ererbten Adel behauptet. Tauss diskutiert u.a. Justus Lipsius' wichtigen Kommentar zu Senecas Definition des "Seelenadels" (nobilitas animi, 1605), ein Begriff, der die Adelsdiskussion in Genuas humanistischen Zirkeln wesentlich mitbestimmte. Die 1587 gegründete Accademia degli Addormentati, der auch Giovanni Francesco Brignole angehörte, diente als Treffpunkt von Intellektuellen, welche u.a. mit der Berufung auf den "Seelenadel" von Decius Mus die Gleichberechtigung zwischen Nuovi und Vecchi politisch durchzusetzen versuchten: ein Vorhaben, das erst um 1615, also kurz bevor der Auftrag an Rubens ging, faktisch zustande kam (S. 234).

Mehrere Kapitel sind Rubens' Teppichvorlagen wie auch den konkreten Bedingungen des Auftrags gewidmet. Obwohl der im Vertrag von 1616 festgelegte Preis von 23 Florin für die gewobene Elle hoch ist, sind solche Preislagen für Tapisserien jedoch so ungewöhnlich nicht, wie Tauss im Anschluss an die ältere Literatur folgert. 1615 schloss Gil Lopes Pinto, portugiesischer Kaufmann und bedeutender Geldgeber der spanischen Krone, mit Hendrick Francqaus Antwerpen einen Lieferungsvertrag für acht Stück Tapisserien zur Geschichte Trojas, die "fin ouvrage de Bruxelles" sowie aus feiner Seide sein sollten. Der Preis pro Elle wurde auf 25 Florin festgelegt (vgl.dazu: Hans Pohl, Die Portugiesen in Antwerpen (1567-1648), Wiesbaden 1977, S. 133 f.). Tapisserien waren der wertvollste textile Exportartikel in den südlichen Niederlanden im 17. Jahrhundert, und Antwerpen scheute keine Mühe, bei prominenten fürstlichen Besuchern für den Kauf von Textilien zu werben.

Die durch einen hervorragenden Quellenteil ergänzte, jedoch leider keinen Index aufweisende Untersuchung von Susanne Tauss geht ausführlich auch auf die Ikonographie von Rubens' ölgemälde ein. So weist Tauss u.a. erstmals darauf hin, dass in der berühmten Adlocutio-Szene die sprechende Hand des Konsuln und die Hand der dritten Standarde, das signum der concordia bzw. fides militum, in exakter übereinstimmung gezeigt sind (S. 82). Tauss zeigt ferner auf, dass gerade durch Waffen, Trophäen und andere dekorative Motive die constantia und devotio des römischen Helden zusätzlich betont werden. Obwohl Rubens durch seine Bilderzählung suggeriert, dass das dargestellte Geschehen innerhalb eines Tages abläuft, ändert sich jedoch die Rüstung des römischen Helden entsprechend der Hauptaussage der einzelnen Szenen. Rubens' künstlerisches Verfahren lässt sich jedoch nicht, wie Tauss vorschlägt, mit dem Prinzip des "disguised symbolism" erfassen (u.a. S. 91, 118). Die von Erwin Panofsky für die Interpretation von Bilddetails in frühniederländischen Gemälden entwickelte Methode wurde überdies in den letzten Jahren besonders von einer am Verhältnis zwischen Bild und Text interessierten Kunstgeschichte neu hinterfragt (vgl. etwa Brendan Cassidy, Hg., Iconography at the Crossroads, Princeton 1993, S. 6). Die sprechenden Details, welche die Tugenden des römischen Helden umso glaubhafter vor Augen stellen, laden m.E. weniger zum Aufspüren eines "versteckten" Sinnes ein, als dass sie die literarischen und antiquarischen Kenntnisse der Betrachter herausfordern. Der Einsatz amplifizierender Mittel bewirkt beim Publikum darüber hinaus jene unmittelbare Evidenz, die nachreformatorische Kunstschriftsteller von Gabriele Paleotti bis Franciscus Junius analog zur rhetorischen Lehre als die höchste Qualität des Historienbildes hervorhoben. Dass gerade solche Techniken sinnlicher Vergegenwärtigung zum schlagenden Erfolg von Rubens' Historienbildern beitrugen, ist kürzlich von Elizabeth McGrath an zahlreichen Beispielen demonstriert worden (Rubens. Subjects from History, 2 Bde, London 1997; zu Decius Mus, Bd 1, S. 74-81).

Wegen des Reichtums an Themen und Interpretationen geht der rote Faden des Textes bisweilen verloren. Im Kapitel "Bild und Text" hätte man sich zudem statt einer Zusammenfassung des schon Bekannten eine stärkere Gewichtung der Argumente gewünscht. Eine umfassende Würdigung etwa des künstlerischen Wettstreits Rubens' mit Raffael im Medium der Tapisserie steht noch aus. Außerdem hätte Tauss in neueren Untersuchungen zu Konsumtionsmustern wohlhabender Eliten im frühneuzeitlichen Italien wichtige Belege für ihre Argumente gefunden (Richard A. Goldthwaite, Wealth and the Demand for Art in Italy, 1300-1600, Baltimore, London 1993). Das Exempel eines republikanischen Helden, der gemäss stoischer und neostoischer Deutung den Luxus verachtet, steht ja in einem auffälligen Gegensatz zum Lebensstil jener an der Strada Nuova residierenden genuesischen Adligen, die als Finanziers der spanischen Krone zu ungeheurem Reichtum gekommen waren. Wie schon ein Beobachter am Ende des 16. Jahrhunderts feststellte, ließen ihre fürstlich geschmückten Paläste deutlich erkennen, dass das Ideal republikanischer Bescheidenheit längst durch verschwenderische Prachtentfaltung ersetzt worden war (Peter Burke, Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock, Berlin 1987, S.127). Es bleibt jedoch das große Verdienst der vorliegenden Arbeit, den sozialen und politischen Hintergrund des Auftrags für die Decius Mus-Tapisserien aufgezeigt zu haben, deren Eleganz und (preisliche) Extravaganz schon 1617 selbst den päpstlichen Nuntius Lucio Morra in Brüssel in Staunen vesetzte.


Christine Göttler

zurück zu KUNSTFORM 2 (2001), Nr. 2

Empfohlene Zitierweise:

Christine Göttler: Rezension von: Susanne Tauss: Dulce et decorum?. Der Decius-Mus-Zyklus von Peter Paul Rubens, Osnabrück: Universitätsverlag Rasch 2000
in: KUNSTFORM 2 (2001), Nr. 2,

Rezension von:

Christine Göttler
University of Washington, Seattle

Redaktionelle Betreuung:

Jan Mohr