Rezension

Matthias Bruhn: Nicolas Poussin. Bilder und Briefe, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2000,
Buchcover von Nicolas Poussin
rezensiert von Henry Keazor, Institut für Europäische Kunstgeschichte, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg

Wie bei kaum sonst einem Maler des Seicento sind im Falle Nicolas Poussins nicht nur viele seiner Briefe überliefert, sondern diese wurden schon 1911 durch Charles Jouanny (Archives de l'art français, N.P.Vol. V, Paris 1911) in einer kommentierten Edition geordnet und bereitgestellt (motiviert durch die Auffindung einiger bislang unbekannter Briefe, plant Jacques Thuillier seit Jahren eine Neuausgabe). Es ist wohl u. a. auch diese leichte Verfügbarkeit, welche der Korrespondenz Poussins einen prominenten Platz innerhalb der Forschungsliteratur des 20. Jahrhunderts gesichert hat, ließ sich doch bequem auf sie zurückgreifen, wenn es galt, den Ruf des Malers als "pictor doctus" zu begründen und fortzuschreiben. Doch über eine solche Verwendung der Briefe als Zitatensteinbruch bzw. Erntefeld für Florilegien (wie z. B. Anthony Blunts in zwei Auflagen erschienenem "Nicolas Poussin - Lettres et propos sur l'art": Paris1964 bzw. 1989) hinaus, wurde den Schreiben des Malers bislang noch keine eigene, systematische Untersuchung gewidmet, obgleich eine solche umso nötiger wäre, als gerade aus ihrem brieflichen Zusammenhang gerissene Aussagen wie z. B. Poussins Ausführungen zur sogenannten "Modus"-Lehre oder seine Unterscheidung von "aspect" und "prospect" inzwischen ein problematisches Eigenleben entwickelt und sich zu nicht länger hinterfragten Topoi zementiert haben. Darüber hinaus aber könnte eine solche Forschung nicht nur Komplexe behandeln, die gleich mehrere Fragen miteinander verknüpfen (z .B. nach der Art von Poussins Interaktion mit seinen Kunden und deren Implikationen für seine Entwicklung des Kabinettbildes), sondern sie könnte auch vor dem Hintergrund inzwischen reichhaltig zusammengetragener Fakten arbeiten, die dabei behilflich sein können, die z. T. von Poussin selbst in seinen Briefen geförderten Legenden (z. B. von seinen bescheidenen Besitzverhältnissen) anhand des zur Verfügung stehenden Wissens (so um Poussins tatsächlichen materiellen Wohlstand) zu korrigieren.

Diese Lücke zu schließen, hat sich Matthias Bruhn mit seiner an der Universität Hamburg abgeschlossenen Dissertation vorgenommen, welche dem hier besprochenen Band zugrundeliegt. Die in den Briefen des Malers verstreut angeschnittenen Themen bündelnd, gliedert der Autor sein Buch in Kapitel, welche das Material auf die Aspekte "Freundschaft, Geschäft und Geld", "Selbstdarstellung", "Zeitgeschichtliche Implikationen"und "Werke" (idealtypisch aufgezeigt anhand der beiden Serien der "Sieben Sakramente") hinordnet.

Schon die überschriften vieler Kapitelabschnitte klingen vielversprechend ("Allegorisierung des Bildraums", "Vom Versuch, einen Begriff zu etablieren", "Das Bild als Theater", "Der Held und die Ordnung"), und insbesondere indem der "Geschäftsfreundschaft" gewidmeten Eingangskapitel gelingen Bruhn immer wieder interessante und anregende Gedankenkonstellationen: so etwa, wenn er das Selbstbildnis in Berlin (p. 36) als "eine neue Form des Heiligenbildes" anspricht, oder, wenn er in einer Engführung seines Buchtitels (p. 28) die Behauptung aufstellt, dass ein äquivalent zwischen den von Poussin geschriebenen Briefen und den von ihm gemalten Bildern postuliert werden könne (ein Gedanke, der p. 47 dann wieder aufgegriffen wird, wenn der von Bruhn immer wieder - vgl. auch p. 87 - beobachtete Rückzug Poussins in eine mehr verhüllende denn offenbarende Bild- und Wortsprache mit der Vorsicht des Malers angesichts der in Frankreich waltenden Zensur erklärt wird). Doch werden solche in thesenartiger Verknappung aus dem Text hervorblitzenden Gedanken leider nur selten vertieft oder konsequent entwickelt - oft stehen solche Aussagen bereits zum Beginn eines Kapitelabschnitts (vgl. z. B. p. 16, wo Poussins sprachliche wie verhandlungstechnische Sparsamkeit gegenüber seinen Kunden mit den ästhetischen Prinzipien seiner "Moduslehre" kurzgeschlossen wird); und selbst wenn sie erst zum Beschluß eines Absatzes erscheinen (vgl. p. 118 mit der Aussage, daß Poussin ein durch seine Briefe sekundiertes, strategisches Kalkül verfolgte, dem Betrachter seiner Bilder eine Identifikation von Maler und dargestelltem Protagonisten zu suggerieren), so fungieren sie auch dann jedoch nicht als Synthese zuvor angestellter Beobachtungen. Vielmehr sind die vorangehenden Textteile oft vollauf mit dem Referat der relevanten Fakten und diesbezüglicher Forschungspositionen beschäftigt, ohne daß sich Raum zur Etablierung eigener Standpunkte genommen würde - erst gegen Ende des betreffenden Abschnitts werden dann zuweilen etwas abrupt und apodiktisch anmutende, da ohne vorangegangene Entwicklung eingeführte Aussagen formuliert.

Bei der Mitteilung solcher Feststellungen vermißt man auch oft deren Einbindung in den Forschungszusammenhang: so wird gegen Ende des Kapitelabschnitts "Der Betrachter auf Distanz" (p. 38) zwar knapp das allgemeine Kompositionsschema der Briefe Poussins vorgestellt, doch wird die dabei angestellte Beobachtung nicht etwa literaturwissenschaftlich verortet, indem z. B. gefragt würde, ob dieser Aufbau gängigen Schemata folgt wie sie u. a. in den (von Bruhn nicht erwähnten) Briefstellern des 17. Jahrhunderts, den sogenannten "Secrétaires", vorgeprägt zu finden waren (vgl. dazu u. a. Stefan Germer, Kunst - Macht - Diskurs, München 1997, p. 79f. - ein Titel, der in Bruhns Arbeit erstaunlicherweise nicht erscheint). Es ist jedoch oft gerade dieser Verzicht auf die Rückbindung der eigenen, an Poussin entwickelten Bemerkungen in einen größeren Horizont, der Bruhns Darlegungen die Prägnanz nimmt: so z. B., wenner Poussins Antwort an Chantelou bespricht, er achte bei der Festsetzung eines Gemäldepreises nicht auf "derlei kleinliche Dinge" wie die Anzahlder darauf wiedergegebenen Figuren (p. 16). Anstatt diesen Satz zunächst einmal konkret vor dem Hintergrund der von Malern wie z. B. Guido Reni gerade entgegengesetzt gehandhabten (und von Poussin mithin implizit kritisierten) Praxis an Schärfe gewinnen zu lassen bzw. ihn auch im Kontext des Bestrebens der Künstler zu lesen, den Wert ihrer Arbeit nicht nur über ihre rein handwerklichen Leistungen bemessen zu lassen, zieht Bruhn den über die Worte Poussins selbst nicht hinausweisenden Schluß, der Maler lege "Wert auf eine erschwingliche Kunstproduktion, die zwischen Vergütung und Entlohnung" moderiere (p. 16). Erst zehn Seiten später wird das Preisverfahren Renis dann beiläufig erwähnt, ohne daß es dann jedoch noch einmal mit der zuvor zitierten Briefstelle konfrontiert würde. Auch das Urteil, Poussin gebe sich in seinen Briefen bei der Erklärung seiner Bilder "sprachloser" als bei der Erörterung nebensächlicher Angelegenheiten (p. 46; vgl. auch p. 52: "Mengenmäßig gesehen, äußert sich der Maler so gut wie gar nicht zu Fragen der Bilderklärung.") würde man gerne dadurch differenziert sehen, daß es zur Korrespondenz anderer zeitgenössischer Künstler in Beziehung gesetzt würde: gaben diese sich bei der Auslegung ihrer Werke wortreicher? Und: konzentriert man sich bei der Interpretation des von Poussin offenbar favorisierten Verfahrens des 'Verschweigens' (p. 87) schon ganz auf den Künstler selbst, so könnte man auch die zuvor in anderem Kontext erwogene Möglichkeit in Betracht ziehen, daß es sich hier ebenfalls um eine "besonders effektvolle Art des 'Understatments'" (p. 68f.) handelte.

Dieser Isolierung der zuweilen auf Poussin fixierten Perspektive entspricht im rein Formalen eine immer wieder zu beobachtende äußerst selektive Wahrnehmung der Forschungsliteratur: zwar scheint Bruhn in seinen Text noch jüngste Publikationen aufgenommen zu haben (vgl. seine Liste zitierter Literatur, wo p. 172 eine Burckhardt-Ausgabe aus dem Jahre 2000 angeführt wird), doch übergeht er auch immer wieder weiter zurückliegende, relevante Veröffentlichungen. So wird z. B. im Text zwar von Poussins materiellen Besitzverhältnissen sowie von seinem Künstlerhaus in Rom gehandelt - in den diesbezüglichen Fußnoten wird jedoch lediglich auf die Forschungen Olivier Michels verwiesen, während die (gerade zum Haus Poussins sehr viel ausführlicheren) Darlegungen Donatella Spartis ungenannt bleiben - obgleich sie im selben, von Bruhn zitierten Tagungsband erschienen sind wie der Aufsatz Michels.

Zuweilen begegnet man auch kleinen Fehlern und Widersprüchen: so wird behauptet (p. 48), bei dem in einem Brief von 1642 (Jouanny, No. 63) erwähnten "Monsieur Carlo" handele es sich um einen Kollegen Poussins - wie ein Blick in den gleichfalls bei Jouanny abgedruckten Folgebrief (No. 64) zeigt, war der Betreffende jedoch wohl nicht einfach ein Künstler, sondern "intendant de S.é. le Cardinal Mazzarini". Bezüglich der das "Urteil des Salomon" vorbereitenden Entwurfszeichnungen hingegen wird einmal (p. 81) behauptet, sie seien zahlreich vorhanden, kreisten jedoch bereits um eine Idee, während es dann später (p. 101) heißt: "Erhalten sind nur einige, zum Teil stark abweichende Vorzeichnungen."

Wenn Bruhn (p. 163, Anm. 24) erklärt, er könne Blunts These (von der gar nicht angegeben wird, in welcher der vielen Publikation Blunts diese geäußert wurde!) nicht nachvollziehen, daß den Schild in der 2. Fassung der "Letzten ölung" einmal ein Christusmonogramm geschmückt habe, so scheint er weder den Nachstich von Jean Pesne (Georges Wildenstein, Les graveurs de Poussin au XVIIe siécle, Paris 1957, p. 236, No. 101), noch dessen Beschreibung durch Bellori (Le vite de' pittori... [Rom 1672], hrsg. von Evelina Borea, Turin 1976, p.435) beachtet zu haben, obwohl er die Beschreibung Belloris (die oben zitierte Ausgabe irrtümlich mit dem Erscheinungsjahr 1974, mit einem falschen Seitenverweis sowie in einem abweichenden Wortlaut zitierend) auszugsweise wiedergibt. Schließlich ist das als Abbildung 10 gezeigte "Urteil des Salomon" spiegelverkehrt wiedergegeben.

Wie schon oben angedeutet, erweist sich das der "Geschäftsfreundschaft" gewidmete Kapitel im Rückblick als das anregendste und reichste: Bruhn (p. 40f.) führt Poussins Verwendung der beiden, in der Forschungsliteratur inzwischen zu etwas unverdienten Ehren gekommenen Begriffe von "aspect" und "prospect" hier nicht nur auf ihren nüchternen, fast banalen Kontext zurück, sondern unterstreicht zugleich ganz richtig, in welch krassem Mißverhältnis dies zu der ursprünglichen Komplexität der beiden Termini steht.

Im gleichen Kapitel schlägt er (p. 41f.) auch vor, in dem vom Maler getragenen Pyramidalring (Ill. 1) auf dem Pariser Selbstportrait von 1650 eventuell auch eine zeitpolitische Sinnschicht zu entdecken: Bruhn macht dazu aufeine auf 1648 datierte und zu Ehren König Karls I. von England geprägte Münze und deren einen hammerspaltenden Diamanten zeigende verso-Seite aufmerksam und zieht die Möglichkeit in Betracht, daß Poussin die damit assoziierten Qualitäten des Edelsteines (Härte, Unbeirrbarkeit, Unzerstörbarkeit, wie sie auch bereits von Georg Kauffmann, Poussin Studien, Berlin 1960, p. 89f. als emblematischer Gehalt des Steins herausgearbeitet worden sind) auch für sich reklamiert habe.

Dem ließen sich nicht nur Darstellungen wie diejenige aus Philippus Picinellis "Mundus symbolicus" (Augsburg 1687) hinzufügen, wo der Ring mit den Worten "Lucet et Ornat" (Ill. 2) als Verkörperung von Weisheit und Beständigkeit illustriert wird (XII, ii, 20, p. 679), sondern vor allem eine ebendort zitierte Passage aus Piero Valerianos "Hieroglyphica"von 1553 (Picinelli, XV, iii, 20, p. 16), wo der Träger des Diamantringes explizit als befähigt beschrieben wird, sogar der unbarmherzigen Fortuna zu trotzen ("...vt superbae etiam fortunae responsare suadeat") - jener Lebensgewalt mithin, die Poussin in einem Brief von 1648 (Jouanny, No. 162) in widerständiger Respektlosigkeit als "verrückte Blinde" ("folle aueugle") titulierte und der gegenüber er Standhaftigkeit zu bewahren suchte.

Stefan Zweig hat Bücher einmal poetisch als "geschriebene Fragen, Ruf ins Unbekannte hin" apostrophiert, deren Sinn der Autor erst begreifen könne, wenn die Leser Antwort darauf gäben: unter den Vorzeichen dieser dialogischen Metapher gefaßt, erweist Bruhns Buch sich als ein Text, der sich (ähnlich wie Poussins Briefe selbst) weniger den Adepten, denn vielmehr einen Kenner zum Gesprächspartner sucht, mit dem er sich über das erforderliche Vorwissen nicht mehr erst verständigen muß, sondern von dem er stillschweigend voraussetzen kann, daß dieser das Nicht-Gesagte und Fehlende aus eigener Kenntnis ergänzt. Und ganz im Sinne des Spruches Zweigs liefert Bruhn zuweilen, wenn er auf Widersprüche und Brüche in den Briefen Poussins aufmerksam macht, diese aber nicht immer klärt, auch weniger Antworten, als daß er neue Fragen provoziert - Fragen, auf welche die künftige Forschung wiederum Antworten wird suchen müssen.


Henry Keazor

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Henry Keazor: Rezension von: Matthias Bruhn: Nicolas Poussin. Bilder und Briefe, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2000
in: KUNSTFORM 2 (2001), Nr. 2,

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Henry Keazor
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Jan Mohr