Rezension

Simon Schama: Rembrandts Augen. , Berlin: Siedler 2000,
Buchcover von Rembrandts Augen
rezensiert von Nils Büttner, Staatliche Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart

Schon auf der ersten Seite pfeifen dem Leser die Kugeln um die Ohren: 1629, bei der Belagerung von 's-Hertogenbosch, als Constantijn Huygens glaubte, "Nachtigallen über der Artillerie singen zu hören". Spannender als Simon Schamas Rembrandt-Biografie könnte auch ein Krimi nicht beginnen. Das Buch führt mitten hinein ins kriegerische 17. Jahrhundert, das man mit "Rembrandts Augen" sehen lernen soll - um letztlich dessen Kunst zu verstehen.

Mit der breit angelegten Schilderung der historischen Situation knüpft das neue Buch an die zu Recht viel gerühmte Kulturgeschichte des Goldenen Zeitalters an, mit der Schama Ende der achtziger Jahre bekannt wurde ("The Embarrassment of Riches", New York 1987; dt. "überfluß und schöner Schein", München 1988). Anders als so viele Rembrandt-Biographen vor ihm erspart Schama seinem Leser in "Rembrandts Augen" die ermüdende Chronologie der Jugend- und Lehrjahre des Meisters und kommt direkt vom Schlachtfeld auf dessen Kunst zu sprechen: 1629 entstand das berühmte "Selbstbildnis mit der Halsberge". Daß es verschiedene Selbstporträts mit diesem militärischen Accessoire gibt, findet keine Erwähnung. Es spielt für Schamas Argumentation auch keine Rolle, genauso wenig wie die Tatsache, dass diese Bilder wohl eher in Den Haag als in Leiden entstanden. Dieses Selbstbildnis bedeutet Schama einfach eine gute überleitung zu dem ebenfalls 1629 entstandenen Gemälde in Boston, das den "Künstler in seinem Atelier" zeigt. Schamas Interpretation, die von einer genauen Beschreibung ausgeht, deren suggestive Kraft durch die teils farbigen Detailabbildungen noch gesteigert wird, läßt das Bild zur Summe von Rembrandts künstlerischem und philosophischen Programm werden (S. 12 ff.). Für den Autor gibt es keinen Zweifel, daß Huygens, der einleitend erwähnte, nachweislich mit Rembrandt bekannte Sekretär des Prinzen von Oranien, der ideale Rezipient dieses Gemäldes war. Es steht außer Frage, daß Huygens gegen Ende des Jahres 1629 drei Bilder Rembrandts für den Statthalter erwarb. Dass er jedoch das Bostoner Atelierbild kannte, ist kaum mehr als eine vage Vermutung. Doch Schama geht es nicht um Spitzfindigkeiten oder kunsthistorische Details und weniger um wissenschaftliche Fragestellungen, als um das allzu Menschliche, um die Triebkräfte von Rembrandts Denken und Handeln, kurz: um Gefühle.

Und die werden inszeniert wie in einem großen Roman. Um die Figur Rembrandts plastischer werden zu lassen, setzt der Autor auf den großen Antipoden: Peter Paul Rubens. Denn - so die Kernthese des Buches - eigentlich wollte Rembrandt wie Rubens sein. Der große Flame war an den Höfen Europas zuhause, wurde geehrt und geschätzt, war ein fleißiges, polyglottes Genie. Und eben das habe auch Rembrandt sein wollen (S. 34-38). Svetlana Alpers hat diesem gern gezogenen Vergleich 1988 in ihrem Buch "Rembrandt's Enterprise" mit guten Gründen widersprochen (dt. "Rembrandt als Unternehmer", Köln 1989). Rembrandt und Rubens sind einander nie begegnet, und es gibt keinen stichhaltigen Beweis dafür, dass Rembrandt tatsächlich wie der dreißig Jahre ältere Rubens leben wollte. Rembrandts Malstil ist denkbar weit von dessen Faktur entfernt, und daß er die Posen des Flamen imitierte, ist letztlich kein Argument, denn er ahmte auch Raffael, Tizian oder Van Dyck nach. Im Grundsatz folgt Simon Schama jenem Rembrandtbild, das Gary Schwartz mit seiner Biografie begründete ("Rembrandt: His Life, His Paintings", New York 1985; dt. Rembrandt: Sein Gesamtwerk in Farbe, Erlangen 1991): Dieser hatte Rembrandt als einen von der Lateinschule geflogenen "drop-out" gesehen, einen Maler mit großen Ambitionen, dem das Leben den großen Erfolg letztlich versagt habe. Auch für Schama ist Rembrandts Leben eine Geschichte voller Misserfolge und Selbstüberhebungen, die darin ihren Ausgang nahmen, daß Rembrandt ein Rubens sein wollte. "Wenn er nur gewusst hätte, wie Rubens Rubens geworden war" (S. 38). Bei dem Versuch, die damit angeschnittene Frage im zweiten Teil seines Buches zu klären (S. 41-191), folgt Schama den ausgetretenen Pfaden der Rubens-Forschung, die dessen Lebensweg als schicksalhaft teleologisch deutet. Daß Rubens bei der bewussten Inszenierung seiner künstlerischen Identität nicht selten das decorum verletzte und im steten Bestreben um gesellschaftliche Anerkennung die Grenzen der Schicklichkeit strapazierte, kommt hier nicht zur Sprache. Eine genaue und detaillierte Beschreibung seines zähen Ringens um soziale Distinktion steht bis heute aus. Diese Lücke kann und muss eine Rembrandt-Biografie nicht schließen, auch wenn sie sich des Themas auf 150 Seiten annimmt. Schon der Umfang dieses "Gegenentwurfes" zu der im folgenden aufgegriffenen Biografie Rembrandts verdeutlicht jedoch Schamas Ambitionen: Er will weit mehr, als einfach Rembrandts Biographie erzählen. Das erweist besonders deutlich der vierte Teil des Buches (S. 311 ff.). Nachdem der dritte Teil gezeigt hat, wie der junge Rembrandt schon in seinen Leidener Jahren "dem Unvergleichlichen auf den Fersen" war, erfährt man nun, wie Rembrandt in Amsterdam mit Rubens rang. Den Einstieg liefert eine "Anatomie Amsterdams", wobei die Stadt mit allen Fünf Sinnen beschrieben wird: Wie riecht Amsterdam? Wie hört es sich an? Wie schmeckt es? Schama will breitesten kulturhistorischen Kontext, wobei er die Details spannend arrangiert und belletristisch ambitioniert vorträgt.

Auch in den beiden letzten Teilen des Buches führt das zu großartigen Passagen, wo der Autor sich auf Dokumente und Fakten stützt. Doch fehlen die leider so manches Mal. Das bietet dann Raum für die literarischen Gemeinplätze der historischen Biografie, vor allem jedoch für atemberaubende Bildbeschreibungen und spannende Interpretationen. Wenn diese auch manchmal bedenklich scheinen, sind sie doch allemal bedenkenswert. So bietet das Buch selbst jenen, die mit dem von Schama entworfenen Rembrandt-Bild nicht einverstanden sind, durch seinen gewaltigen Materialreichtum wie durch die Fülle an Thesen und Geschichten ein inspirierendes und bereicherndes Leseerlebnis. Die zahlreichen, gut gedruckten und in den Text eingebundenen Illustrationen tragen das Ihre zur Attraktivität des Buches bei, die durch den sorgsam übersetzten Anmerkungsapparat und ein Namensregister noch gesteigert wird.


Nils Büttner

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Empfohlene Zitierweise:

Nils Büttner: Rezension von: Simon Schama: Rembrandts Augen. , Berlin: Siedler 2000
in: KUNSTFORM 2 (2001), Nr. 1,

Rezension von:

Nils Büttner
Staatliche Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart

Redaktionelle Betreuung:

Jan Mohr