Rezension

Konrad Oberhuber: Raffael. Das malerische Werk, München: Prestel 1999,
Buchcover von Raffael
rezensiert von Rudolf Hiller von Gaertringen, Kustodie, Universitätsmuseum Leipzig

Es gibt wohl kaum einen berufeneren Autor für eine große Raffael-Monografie als Konrad Oberhuber, der seit seinem grundlegenden Aufsatz "Vorzeichnungen zu Raffaels Transfiguration" von 1962 durch zahllose Forschungsbeiträge hervorgetreten ist und mit Recht zu den entscheidenden Protagonisten der Raffael-Forschung zählt. Das vorliegende, 1999 erschienene Buch stellt somit eine Art Summa zum Thema Raffael dar, deren über Jahrzehnte erarbeitete, ausgewogene Sicht der Dinge auf jeder Seite spürbar wird. Der Band fußt denn auch, wie der Einleitung zu entnehmen ist, auf einer älteren Schrift des Autors: Oberhubers nur in italienisch publizierter Raffael-Monografie von 1983, die überarbeitet und hervorragend illustriert nun zugleich in italienisch, englisch und deutsch vorgelegt wird. (Dass die deutsche Fassung aus dem Englischen übersetzt wurde, ist dem Text aufgrund zahlreicher Anglizismen und einer englischem Usus folgenden Zeichensetzung leider anzumerken.) Das Ergebnis ist gleichwohl ein schön gemachtes Buch, das man gern zur Hand nimmt. Allein der umfängliche, fein reproduzierte Abbildungsteil, der nahezu alle Werke in ihrem aktuellen Zustand, d. h. im Anschluß an jüngst erfolgte Restaurierungen zeigt, werden es zu einem oft benutzten Standardwerk machen.

Der gut und flüssig geschriebene Text steht in der Tradition der klassischen Künstlermonografie. Ein einleitendes Kapitel mit dem Titel "Raffael, der Heilige und Maler" beschäftigt sich mit der Frage seines Charakters und zeigt zugleich die schon früh nachweisbare "hagiographische Verklärung" des Künstlers auf. Von Interesse ist auch der Hinweis auf die verschiedenen Umfelder, die Raffael von dem höfischen, künstlerisch international ausgerichteten Urbino über das feudal geprägte Perugia und das bürgerliche, von Wettstreit und philosophischer Diskussion bestimmte Florenz nach Rom führten, wo die Macht der Päpste neue Ausdrucksformen suchte und sich dabei zunehmend antiken Formenvokabulars bediente. Die elf Hauptkapitel des Textes liefern einerseits eine Chronologie der Werke und bemühen sich andererseits um deren Einordnung in größere geistesgeschichtliche Zusammenhänge. Ein "Epilog" beschäftigt sich mit strittigen Zuschreibungen aus der späten Produktion, wobei Raffaels Anteil nun wieder optimistischer eingeschätzt wird als noch vor kurzem. Methodisch wird ein traditionelles stilkritisches Instrumentarium mit überlegungen Rudolf Steiners verknüpft, demzufolge sich die menschliche Entwicklung in Siebenjahresschritten vollzieht, wobei der Mensch in den - für Raffaels Biografie besonders interessanten - Jahren zwischen 21 und 42 von der "Empfindungsseele" über die "Verstandesseele" zur "Bewußtseinsseele" fortschreitet.

überhaupt ist der Begriff des "Fortschreitens" ein zentraler in diesem Buch. Wie auf einer Perlenkette werden die Werke des Künstlers aufgereiht und die zu beobachtenden stilistischen und geistigen Fortschritte konstatiert. Da der hier zur Verfügung stehende Raum weder eine angemessene Würdigung noch eine vertiefte Diskussion der Darstellung erlaubt, können im Folgenden nur einige kursorische Bemerkungen angebracht werden, die dem Werk in keinster Weise gerecht zu werden vermögen. Raffaels Anfänge in Urbino und die von Vasari überlieferte Lehrzeit bei Perugino jedenfalls sind vergleichsweise knapp abgehandelt, fast als sei das junge Genie tendenziell voraussetzungslos gewesen. Die Schilderung nimmt ihren Ausgangspunkt bei Raffaels erstem gesichertem, nunmehr fragmentiertem Altarwerk, dem für Città di Castello bestimmten S. Niccolodi Tolentino-Retabel von 1500/1501. Ob die - allein stilkritisch zu datierende - Pala Colonna des Metropolitan Museum in der Tat "Raffaels erstes erhaltenes Altarbild" darstellt, wurde und wird auch in Zukunft bezweifelt werden. überzeugender ist dagegen Oberhubers These, die kleine Auferstehung in Sao Paulo sei zwar von Raffael entworfen, aber von Pinturicchio ausgeführt worden. An die umbrischen Frühwerke schlossen sich um 1504 einige kleinformatige Tafelbildchen für den Hof von Urbino an, die sich an - dort besonders beliebten - niederländischen Vorbildern orientierten. Danach suchte Raffael, trotz einer fortgesetzten Tätigkeit für Urbino und Perugia, in Florenz Fuß zu fassen, was in eine vertiefte Auseinandersetzung mit neuesten Tendenzen mündete. Die Reihe der Madonnenbilder wird ebenfalls im Sinne eines stetigen "Fortschritts" sowohl der künstlerischen Mittel als auch des Bewusstseins interpretiert. Dabei werden die auf Steinersche Begriffe gestützten Werkanalysen auch von demjenigen mit Gewinn gelesen werden, der den Wert der Anthroposophie für Datierungszwecke bezweifelt.

Mit der übersiedelung nach Rom um 1508 tritt Raffael als "Meister der Harmonie" hervor, der das Wissen seiner Zeit synthetisiert und in wirkmächtige Bilder gießt. Oberhubers Schilderung der verschiedenen Stanzen bildet fraglos ein Kernstück des Buches, das in verdichteter Form nicht nur eine gewaltige Fülle an Informationen vermittelt, sondern zugleich auch deren geistes- und ideengeschichtliche Implikationen aufzeigt. Nachdem sich Raffaels künstlerische Wirkung unter Papst Julius II. auf ganz Italien ausgebreitet hatte, erreichte sein Einfluß unter Leo X. europäische Dimensionen. Die 1514 begonnenen Fresken der Stanza dell'Incendio hatten Oberhuber zufolge gar das "Verhältnis zwischen dem Papsttum und der Welt" zum Thema (146). Zugleich fanden Raffaels Werke geographisch weite Verbreitung, u. a. in Form der nach Flandern verschickten Teppichkartons, der an den König von Frankreich versandten Gemälde sowie durch die unter seiner Aufsicht hergestellte Druckgraphik. Portraits malte Raffael offenbar nur für Freunde und Förderer, Menschen, die ihm persönlich nahe standen. Die von Giuliano de' Medici in Auftrag gegebene Transfiguration interpretiert Oberhuber als "Summe seiner Kunst und sein Vermächtnis an die Menschheit" (223), zugleich aber auch als Ausdruck der nunmehr gereiften "Bewußtseinsseele" Raffaels.

Der Ton des Buches erklärt sich in nicht geringem Maße aus der jahrzehntelangen Forschungsarbeit des Autors, für die Mehrzahl der Leser jedoch werden Herkunft und Begründung der Einzelinformationen aufgrund fehlender Fußnoten nicht mehr rekonstruierbar sein. Zugleich erschwert die Sicherheit des Tones die Unterscheidung zwischen "harten"und "weichen" Fakten, wobei insbesondere der Stellenwert stilkritischer Erkenntnisse sehr optimistisch beurteilt wird. Es stellt sich beispielsweise die Frage, warum zwei malerisch so unterschiedliche Werke wie die Madonna mit dem Diadem und die Aldobrandini-Madonna im selben Jahr 1511 entstanden sein sollen. Die Konjekturen sind insgesamt beträchtlich größer, als der Text glauben machen will. Dies belegen auch die noch immer möglichen Entdeckungen, wie die jüngst von Arnold Nesselrath überzeugend argumentierte Ausführung des Freskos "Kaiser Justinian empfängt von Trebonianus die Pandekten" durch Lorenzo Lotto (vgl. The Burlington Magazine 142, Jan. 2000, S. 4-12). Eine solche Kooperation, wie sie Julius II. offenbar gerne förderte, gibt auch der verschiedentlich vermuteten Mitwirkung Dosso Dossis an der Landschaft der Madonna di Foligno neuen Auftrieb, die beispielsweise jener in dessen "Allegorie mit Pan" im Getty Museum in Los Angeles außerordentlich nahesteht.

überhaupt ist der Bedarf an weiteren Forschungen größer, als es den Anschein haben könnte. Dies betrifft insbesondere die - von Oberhuber neu eröffnete - Diskussion um die Funktionsweisen der Raffaelwerkstatt unter Leo X.: Die Rolle Raffaels und der Beitrag einzelner Schüler an den Werken jener Jahre sind alles andere als geklärt. Dergleichen wird sich begründet nur durch detaillierte maltechnische Untersuchungen darlegen lassen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Raffael durch seine Lehrzeit bei Perugino als einziger über eine quattrocenteske Ausbildung verfügte. Das vorliegende Buch sollte in jedem Fall als willkommene Bilanz einer in den letzten Jahrzehnten neu erstandenen, über alle Maßen ertragreichen Raffael-Forschung und nicht als prächtiger Sargdeckel aufgefasst werden, unter dem der Meister nun endgültig begraben wird. Da Totgesagte bekanntlich länger leben, wird man sich um Raffael kaum Sorgen machen.


Rudolf Hiller von Gaertringen

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Rudolf Hiller von Gaertringen: Rezension von: Konrad Oberhuber: Raffael. Das malerische Werk, München: Prestel 1999
in: KUNSTFORM 2 (2001), Nr. 1,

Rezension von:

Rudolf Hiller von Gaertringen
Kustodie, Universitätsmuseum Leipzig

Redaktionelle Betreuung:

Jan Mohr