Rezension

Irmgard Müsch: Geheiligte Naturwissenschaft. Die Kupferbibel des Johann Jakob Scheuchzer, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000,
Buchcover von Geheiligte Naturwissenschaft
rezensiert von Anette Michels, Graphische Sammlung, Kunsthistorisches Institut, Eberhard Karls Universität, Tübingen

Die Berliner Dissertation von Irmgard Müsch bildet die Grundlage des Buches, das sich einem publizistischen Großunternehmen des 18. Jahrhunderts widmet, nämlich der "Kupfer-Bibel" - oder "Physica Sacra" (1731-35) - des Johann Jakob Scheuchzer. Anliegen des Züricher Mathematikers, der sich für eine Reform des Bildungswesens einsetzte und der die zeitgenössischen, neuen Erkenntnisse der empirischen Naturgeschichte im Rahmen eines theologisch ausgerichteten Lehrplans betrachtet wissen wollte, war die Darstellung eines Gottesbeweises durch die Naturforschung. Der Vermittlung dieses Ziels in Text und Bild diente seine aufwändige Buchunternehmung der "Physica Sacra". Dabei fand Scheuchzer gerade in der Freien Reichsstadt Augsburg, als einem Zentrum der Kupferstecher- und Verlegertradition, das geeignete Umfeld zur Realisierung seines Anliegens. Sein repräsentatives Werk - mit über 2000 Seiten Text und mehr als 750 Kupferstichen - entstammt einem komplizierten Entstehungsprozess, an dem zahlreiche Personen vom Textautor über die Entwerfer, Stecher und Drucker bis hin zum Verleger Johann Andreas Pfeffel verantwortlich tätig waren.

Die vorliegende historische Analyse der Realisation der Kupferbibel stellt signifikante Praktiken des Augsburger Verlagswesens heraus, ebensowie die biblisch-physikotheologischen Positionen der Bilder und begleitenden Texte einer sorgfältigen und differenzierten Betrachtung unterzogen werden. Irmgard Müsch nimmt Scheuchzers Werk als Fallbeispiel für die Rekonstruktion des Kontextes, der zur Entstehung dieses aufwändigen Buchunternehmens führte. Die Grundlage bildeten die über 5000 erhaltenen Briefe und Briefkonzepte Scheuchzers sowie diejenigen seines Augsburger Verlegers Johann Andreas Pfeffel, der eine führende Stellung im Handel mit Kupferstichen inne hatte. Ein Teil der unpublizierten, für den vorliegenden Zusammenhang wichtigen Quellen des Augsburger Verlegers werden erstmals im Anhang des Buches veröffentlicht.

Die Arbeit gliedert sich - im Anschluß an das einleitende Kapitel- in vier große Abschnitte, zuzüglich des bereits genannten Quellenanhangs: Die Autorin skizziert zunächst die kritische historische Ausgangssituation um 1700 in Zürich sowie die Persönlichkeit von Johann Jakob Scheuchzer, des Initiators der Kupferbibel. Daran schließt sich die Analyse der Genese des Werkes an, indem - auf der Grundlage detaillierter Quellen- und Bildanalysen - die Zusammenarbeit der entwerfenden Künstler Johann Melchior Füßli und Johann Daniel Preißler mit dem Verleger Johann Andreas Pfeffel dargelegt wird. Dabei stehen aber auch Fragen der Zensur, der Korrektur von Bild und Text sowie der Finanzierung bis hin zum Vertrieb durch Subskription, oder die Herausgabe zusätzlicher fremdsprachlicher Lizenzausgaben, im Interesse der vorliegenden Arbeit. Darauf baut des weiteren das Kapitel "Weltanschauung in Bild und Text" auf, mit einer systematischen Analyse der Struktur der Bildertafeln, unter Einschluss der wichtigen Frage der Kompilation einzelner Bildelemente und Motive. Ebenso analysiert Irmgard Müsch die Art und Weise der argumentativen Vermischung von tradierter Bibelüberlieferung und neuem, naturkundlichem Wissen, das Scheuchzer seinem Primat physikotheologischer Beweisführung unterstellte. Dem entspricht auch die Zielrichtung von Bild und Text, indem Scheuchzer die Verwendung von Allegorien in den Illustrationen vermied und den Stil der begleitenden Texte möglichst sachlich, ohne metaphorische Elemente, hielt. Diese Charakteristika lassen die Kupferbibel im Vergleich zu älteren Augsburger Wissenschaftsillustrationen und Gattungen, etwa dem Thesenblatt, als moderner bzw. zukunftsweisender erscheinen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die unmittelbare Aufnahme und weitere Rezeption des naturkundlichen Bibelkommentars der "Physica Sacra" dagegen von Kollegen und Zeitgenossen Scheuchzers teilweise bereits als überholt und nicht mehr zeitgemäß bewertet worden war, wie die rezeptionshistorischen Ergebnisse am Schluss des Buches zeigen. Spätestens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war die theologisch untermauerte Naturkunde bedeutungslos geworden, auch wenn zu betonen ist, daß die physikotheologische Wahrnehmung der Natur zuvor die zeitgenössische Dichtung (etwa von Barthold Heinrich Brockes [1680-1747] u. a.) mit ihren ausführlichen Naturbetrachtungen beeinflusst hatte, ebenso wie die Entdeckung der Natur in den Alpen neuer Gegenstand von Künstlern, Dichtern und Wissenschaftlern wurde.

Es ist das Verdienst der Arbeit von Irmgard Müsch, die historischen Schnittstellen der "Kupferbibel" sorgfältig im Kontext der Quellen und der Bildüberlieferung erarbeitet und transparent gemacht zu haben. Damit wird erstmals umfassend die wissenschaftshistorische Bedeutung dieses Werkes herausgestellt, das zuvor eher unter spezielleren fachwissenschaftlichen Perspektiven ausschnittsweise betrachtet wurde (u. a. von der Medizin und der Geologie oder auch durch Barbara Staffords jüngeren kunsthistorischen Ansatz einer textunabhängigen Analyse im Sinne einer "visual culture", die einzelne Illustrationen Scheuchzers für ihren Kontext heranzog). Nicht zuletzt wird auch der "ästhetischen Positionierung" der sorgfältig geplanten Illustrationen besonderes Augenmerk geschenkt. Die Analyse der Bildentstehung von der detaillierten Vorzeichnung, bzw. sogenannten "Delination", zur danach ausgeführten druckgraphischen Illustration ist graphikhistorisch sehr wertvoll, zumal Irmgard Müsch hier drei unterschiedliche Techniken der übertragung von der Zeichnung auf die Kupferplatte differenzieren kann. Dies ist deswegen besonders erwähnenswert, da wir hierzu - nach wie vor - nur geringe, punktuell vorhandene Kenntnisse besitzen, wie auch der historische Terminus der "delination" bisher noch nicht inhaltlich geklärt werden konnte. Die Autorin kann hier für ihren eingegrenzten Gegenstandsbereich einiges präzisieren, auch wenn man in anderen Zusammenhängen dieser Art von Zeichnungen noch auf zusätzliche Aufschlüsse angewiesen sein wird.

Die kunsthistorische Eigenart und Bedeutung der "Physica Sacra" - als eines kompilatorischen Werkes mit einer konzeptionellen, bildlichen Argumentationsstruktur, die bibelkundliche Aspekte mit physikotheologischer Beweisführung vereinte - fügt sich in die breite Augsburger Bild- und Buchproduktion des 17./18. Jahrhunderts mit ihren traditionell engen Verbindungen zum gelehrten und wissenschaftlichen Leben und der Betonung visueller überzeugungskraft. Hinsichtlich der spezifischen Strategien von Bild und Text im Kontext theologischer Aufwertung zeitgenössischer Naturkunde, schließt diese monographische Arbeit eine wichtige Lücke und trägt zur Erhellung verlegerischer Praktiken ebenso bei, wie auch das Verhältnis von Auftraggeber, Zeichnern und Kupferstechern für die Zeit um 1730 differenziert werden konnte. Darüber hinaus bietet das Buch auch mit seiner wissenschaftshistorischen Einordnung von Bildern und Texten der Kupferbibel eine profunde Basis für weitere Forschungen.


Anette Michels

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Empfohlene Zitierweise:

Anette Michels: Rezension von: Irmgard Müsch: Geheiligte Naturwissenschaft. Die Kupferbibel des Johann Jakob Scheuchzer, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000
in: KUNSTFORM 2 (2001), Nr. 1,

Rezension von:

Anette Michels
Graphische Sammlung, Kunsthistorisches Institut, Eberhard Karls Universität, Tübingen

Redaktionelle Betreuung:

Jan Mohr