Rezension

Erasmus Weddigen: 'Jacomo tentor f.', Myzelien zur Tintoretto-Forschung. Peripherie, Interpretation und Rekonstruktion, München: Scaneg 2000,
Buchcover von 'Jacomo tentor f.', Myzelien zur Tintoretto-Forschung
rezensiert von Gabriele Wimböck, Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Zu den Künstlern, deren Schicksal es ist, im Schatten eines Bedeutenderen zu stehen, gehört der Venezianer Jacopo Robusti, genannt Tintoretto, der stets den Vergleich mit seinem berühmteren Vorgänger Tizian erdulden mußte - schon Pietro Aretino und Giorgio Vasari bevorzugten den Starmaler der Serenissima, doch auch die moderne Forschung zeigte lange Zeit kein Interesse für den manieristischen 'Erzählermaler'. In der deutschsprachigen Literatur gehört der Kunsthistoriker und Restaurator Erasmus Weddigen zu den Autoren, die nicht nur früh auf den Vernachlässigten aufmerksam machten, sondern regelmäßig Neues zur Diskussion beisteuern - mit Beiträgen, die gelegentlich durch unkonventionelle Herangehensweise (z.B. 'Des Vulkan paralleles Wesen', München 1994), und häufiger noch mit ungewöhnlichen Titeln überraschen. So will der Autor auch die vorliegende Publikation, die aus verschiedenen, zum Teil auf Ergebnisse der 60er Jahre zurückgehenden, in jüngerer Zeit aber nochmals überarbeiteten Aufsätzen zusammengestellt ist, als Myzelien, als verästelten Grundboden künftiger 'Forschungsfrüchte', verstanden wissen. Die Entscheidung, Beiträge zu veröffentlichen, die teilweise bereits publiziert sind, erscheint insofern berechtigt, als den Aufsätzen die Beschäftigung mit dem Frühwerk gemeinsam ist, mit dem sich die Tintoretto-Forschung schon immer schwer getan hat, da ein ganzes Jahrzehnt in Tintorettos Schaffen nach einem ersten signierten Werk von 1540 im Dunkeln liegt. Zwangsläufig lassen sich in einer solcher Aufsatzsammlung Wiederholungen nicht vermeiden, auch richtet sich das Buch mit seinen speziellen, selten durch allgemeine Erläuterungen ergänzten Fragestellungen an den Fachmann, doch bilden immer wiederkehrende Fragen nach Raumkonstruktion, Architekturgestaltung, Erzähltaktik und künstlerischer Selbstreflektion eine Grundstruktur, die der Leser gut nachvollziehen kann. Stark hat auch die restauratorische Tätigkeit die Herangehensweise an Rekonstruktionen oder Deutungen geprägt.

In den ersten beiden Kapiteln wird der Leser anhand der sogenannten Adultera Chigi in Rom und dem Einzug Christi in den Uffizien mit zwei charakteristischen Werken der frühen Zeit konfrontiert, in der Tintoretto vorwiegend kleinformatige, religiöse oder profane (Cassoni-)Bilder für den Privatgebrauch fertigte, deren Provenienz und Autorschaft kaum gesichert sind, und deren Zuordnung häufig der Stilkritik überlassen werden muß. Nach einer Phase gehäufter Zuschreibungen solcher Werke an Tintoretto wurden in jüngerer Zeit zunehmend unbekanntere Maler ins Spiel gebracht, besonders der kaum dokumentierte Giovanni Galizzi. Für die genannten Bilder wendet sich Weddigen gegen diesen neuen Attributionsvorschlag, indem er den Entstehungsprozeß der Tafeln rekonstruiert und den darin sichtbaren "bildphilologischen" Einfallsreichtum als Indiz für einen begabten Jungmeister wie Tintoretto anführt.

Doch erst mit seinem immer noch zu wenig beachteten Wirken für eine der mächtigsten und einflußreichsten Scuolen Venedigs, der Scuola di San Marco, gelang dem jungen Maler der eigentliche Durchbruch in der Lagunen-Stadt. Es ist deshalb naheliegend, das 1548 entstandene Schlüsselwerk dieser Ausstattung, das sogenannte Sklavenwunder des Heiligen Markus, auf seine Stellung im Frühwerk hin zu beleuchten. Da in jüngerer Zeit fundierte monographische Untersuchungen zu dem Bild vorgelegt wurden, beschränkt Weddigen sich auf zwei bislang wenig beachtete Bereiche, die die Identitätssuche des jungen Malers in der Künstlergemeinschaft der Serenissima widerspiegeln sollen: die übernahme von Bildmotiven aus dem Werk Sansovinos sowie im Bild versteckte ritratti. Einleuchtend dargestellt ist, wie sich Tintoretto in Szenenwahl und -gestaltung vor einem "ikonostrategischen Hintergrund" an der nur wenige Jahre zuvor entstandenen, pergolo genannten Sängerkanzel des Bildhauers in San Marco orientiert hatte. Probleme dürfte der Leser eher mit Weddigens Identifikation der Gestalten im Publikum als illustre Versammlung zeitgenössischer venezianischer Künstler haben: Sansovino, dessen Lieblingsschüler Alessandro Vittoria, der Festungsbaumeister Michele Sanmicheli, und Sebastiano Serlio sollen sich hier die Ehre geben neben dem Auftraggeber Tommaso Rangone und dem zum 'Antiapostel' und Folterknecht umgedeuteten Kunstkritiker Pietro Aretino. Am gewagtesten scheint, wie der Autor selbst zugibt, die These, der als 'Eques' charakterisierte Tizian und der benachbarte 'Artifex' Michelangelo verbeugten sich vor Tintoretto in Gestalt des am Boden liegenden Sklaven.

Auch die drei weiteren Bilder Tintorettos für das Versammlungslokal sind im Zusammenhang mit dem Frühwerk von Interesse. Sie wurden zwar erst 1562 von dem aus Padua stammenden Arzt und Gelehrten Tommaso Rangone in Auftrag gegeben - dessen auf öffentliche Ehrung ausgerichtetem Mäzententum ein eigenes, kenntnisreiches Kapitel gewidmet ist - doch könnten sie bereits zusammen mit dem Sklavenwunder geplant gewesen sein. Zumindest wurde der sogenannte Brüsseler Modello mit einer Skizze zur 'Rettung der Heiligengebeine' von einigen Autoren bereits in die 40er Jahre datiert. Deshalb rekonstruiert Weddigen zunächst für alle drei heute nicht mehr vollständig erhaltenen Bilder Format und perspektivische Komposition - wobei eine Untersuchung der 'Rettung der Sarazenen' eine architektonische Vorzeichnung ergeben hatte - und skizziert die ursprüngliche Anbringung im Versammlungsraum der Scuola, die eventuell an der Gestaltung der Aussenfassade der Scuola orientiert und im Sinne einer betrachterperspektivischen Gesamtkomposition gestaltet war. Wie er feststellt, wurden nach einer Planänderung die Bilder einzeln gehängt und die Gesamtanlage aufgegeben; zu diesem Zeitpunkt könnte der Brüsseler Modello dazu gedient haben, den neuen, heute ausgeführten Bildentwurf vorzubereiten.

Persönliche Aussagen zu seiner Person scheint Tintoretto, glaubt man Weddigen, weniger in Selbstporträts als mittels subtiler oder kryptischer Zeichen in seinen Bildern hinterlassen zu haben. Während er in der 'Herbeibringung des Gußmodells' aus dem Zyklus mit dem Goldenen Kalb in der Madonna dell'Orto sich noch im konventionellen Sinne im versteckten Porträt verewigte, erscheint der Maler in der Assunta für den Bamberger Dom nicht nur in der Figur des Jacobus als Zeuge des Geschehens, sondern gibt in dem gut entzifferbaren Bibelexemplar im Bildvordergrund dem Betrachter ein Bildrätsel auf, das sich erst bei genauerem Studium der dort zusammengestellten Textstellen erschließt und einen Hinweis auf die charakterlichen Stärken Tintorettos beinhalten soll.

Neben dem Problem der Selbstdarstellung gehört seit Pallucchinis Buch zur giovinezza Tintorettos die Frage nach einer möglichen Romreise des Malers zur Forschungsdiskussion des Frühwerks. Angesichts des Bildbefundes zeigt Weddigen, daß wahrscheinlicher als ein Aufenthalt in der Ewigen Stadt der Rückgriff auf die Bücher Serlios als Vorlage für antike wie moderne römische Architektur, der Besuch venezianischer Antikensammlungen und die Verwendung von Studienzeichnungen oder Bozzetti für den auffälligen michelangiolismo bleibt. Tintorettos weniger an der Architektur denn an der plasticità der Figuren ausgerichtetes Raumverständnis wird anschaulich durch einen mittels einer CAD-Anwendung rekonstruierten Bildraum demonstriert, der auf einer detaillierten Vorzeichnung des Malers zu dem um 1550 entstandenen Venus-und-Vulkan-Bild in München beruht - eine Vorzeichnung, die vermutlich mit Hilfe einer von ihm häufig benutzten Modellbühne mit Wachsfigürchen erstellt wurde.

Ist der Leser bis zu diesem letzten großen Kapitel vorgedrungen, kann er sich entspannt zurücklehnen, und mit vier kurzen, teilweise eher feuilletonistischen Beiträgen (zu Fontane und Tintoretto, dem Tintoretto-Jahr 1994 und einer Buchrezension) die Lektüre beschließen.


Gabriele Wimböck

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Empfohlene Zitierweise:

Gabriele Wimböck: Rezension von: Erasmus Weddigen: 'Jacomo tentor f.', Myzelien zur Tintoretto-Forschung. Peripherie, Interpretation und Rekonstruktion, München: Scaneg 2000
in: KUNSTFORM 1 (2000), Nr. 2,

Rezension von:

Gabriele Wimböck
Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Redaktionelle Betreuung:

Jan Mohr