Rezension

Susanne Richter: Jacopo Tintoretto und die Kirche der Madonna dell' Orto zu Venedig. Studien zur künstlerischen Rezeption von Michelangelos Jüngstem Gericht in Italien nach 1540, München: Scaneg 2000,
Buchcover von Jacopo Tintoretto und die Kirche der Madonna dell' Orto zu Venedig
rezensiert von Andrea Gottdang, Kunsthistorisches Institut, Universität Salzburg

Kennerschaft und Stilgeschichte haben die venezianische Kunstgeschichte über Jahrzehnte so stark dominiert, daß die Beschäftigung mit den Darstellungsinhalten venezianischer Gemälde darüber ins Hintertreffen geriet. Daß hier ein immenser Nachholbedarf zu decken ist, wurde mittlerweile erkannt. Studien von Krischel, Weddigen und anderen haben am Beispiel des Malers Jacopo Tintoretto gezeigt, wie lohnend es ist, an altbekannte Gemälde mit 'neuen' Fragestellungen, seien sie der Ikonographie, Ikonologie oder Kunsttheorie verpflichtet, heranzutreten. Das von Susanne Richter vorgelegte Buch ist ein weiterer Beleg dafür, daß in der venezianischen Malerei des Cinquecento noch manch interessante Entdeckung zu machen ist.

Richter widmet sich einem monumentalen Bilderpaar Tintorettos im gotischen Chor der Madonna dell' Orto, einer venezianischen Kirche, die 1547 zur Pfarrkirche des Künstlers geworden war. Tintorettos Gemälde gehören der Gattung der laterali, der seitlichen Wandbilder, an. Zum Thema haben sie das Jüngste Gericht und, in einer Simultandarstellung, die Gesetzesübergabe an Moses sowie die Vorbereitung zum Guß des Goldenen Kalbes. Die Tintoretto-Forschung brachte ihnen bisher nur mäßiges Interesse entgegen; die Datierung des Bilderpaares in die Jahre 1562/63 war allgemein anerkannt. Es ist ein erstes Verdienst Richters, die Gemälde überzeugend auf ca. 1556/57 vordatiert zu haben. Neben einem Verweis auf umfangreiche Neugestaltungen der Kirche (Quadraturamalerei der Brescianer Brüder Rosa im Bereich der Decke und des Obergadens) kommt große überzeugungskraft dem Fund einer Quelle zur Familiengeschichte des Künstlers zu. Dessen Schwiegervater, Marco Episcopi, hatte bereits 1555 für sich und seine Familienangehörigen, mithin auch für Tintoretto, eine Grabstelle erworben. Nachdem die Gebeine des Künstlers 1866 umgebettet worden waren, geriet in Vergessenheit, wo er ursprünglich seine letzte Ruhestätte hatte. Sie befand sich an privilegiertem Ort: im Mittelschiff, vor der Hauptchorkapelle, in der Tintoretto somit "eine Form von Grabkapelle" (47) für sich gesehen haben könnte. Hierin sieht Richter eins der vielschichtigen Motive, die zur Wahl der Gerichtsthematik für eines der Bilder führten, das zusammen mit seinem Pendant als Fortsetzung des Zyklus der Brescianer Maler betrachtet werden muß. Die Themen der verlorenen Deckenmalereien sind nur vage überliefert, aber doch gut genug, um eine typologische Ordnung erkennen zu lassen.

"Ikonographische Betrachtungen" (68-103) stellen die Bildthemen in ihre jeweilige Darstellungstradition und heben besonders Abweichungen hervor. So fiel schon Knöpfel 1984 auf, daß im Mosesbild nicht die Anbetung des Goldenen Kalbes dargestellt ist, sondern, ikonographisch ungewöhnlich, die Vorbereitung zum Guß. Der Besprechung des Jüngsten Gerichts dient vorrangig die Beschäftigung Michelangelos mit dem gleichen Thema in der Sixtinischen Kapelle als Folie. Einzelne ungewöhnliche Motive werden zumeist überzeugend interpretiert (etwas Skepsis ist angebracht, wenn das Motiv der Seelenwägung als "sinnentleerend" (90) eingestuft wird, weil die Waage des Erzengels Michael Ringe anstelle der Schalen hat). Vor allem wird herausgearbeitet, daß die Vernachlässigung der Darstellung der Höllenzone ungewöhnlich ist. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Errettung der Menschen. Da diese Themenauffassung "im Gegensatz zur herrschenden Bildtradition und religiösen überzeugung" steht, wendet sich Richter ausführlich dem intellektuellen Umfeld Jacopo Tintorettos (Kap. 4) zu, dessen Erschließung auch für Interpretationen weiterer Werke des Künstlers hilfreich sein wird. Es wird ein dichtes Netzwerk von Beziehungen geknüpft, in dem auffallend viele Fäden zu Personen laufen, die Reformationsgedanken aufgeschlossen gegenüberstanden. So war Tintoretto mit Antonio Francesco Doni befreundet, der die Auffassung vertrat, daß der Glaube allein zur Seelenrettung führe. Zusammen mit Doni, Lodovico Dolce, Tizian, Sansovino und anderen gehörte Tintoretto der Accademia dei Pellegrini an, die Kontakte zu Sympathisanten der Reformunterhielt. Schließlich die Kongregation von San Giorgio in Alga selbst, die 1462 die Madonna dell' Orto übernommen hatte und deren Kanoniker sicher Tintorettos theologische Ratgeber waren. Schon die Schriften Lorenzo Giustinians, der ab 1409 wiederholt Prior der Kongregation war, standen der devozia moderna nahe, und Gasparo Contarini, Protektor der Kongregation, zog sich mit seinen Vorstellungen einer "duplex iustitia" den Vorwurf der Häresie zu. Eine weitere Spur führt zu Benedetto da Mantova und seinem Traktat Il Beneficio di Cristo, "einem der 'Bestseller' des Buchmarktes vor 1550" (145).

Die Verbreitung reformatorischen Gedankenguts in Venedig und der Einfluß des Beneficio auf weite Teile der Bevölkerung sind bekannt, die Kunstgeschichte konzentrierte sich aber darauf, gegenreformatorische Einflüsse auf die Malerei nachzuweisen. Verblüffend wenig Versuche wurden unternommen zu prüfen, ob manch ungewöhnliche Themenwahl und -auffassung nicht aus dem Klima religiöser Toleranz in Venedig hervorging und Reformbewegungen nahestand. Bei Tintorettos monumentalen Wandgemälden scheint dies der Fall gewesen zu sein. Die Lektüre des Beneficio enthält nicht nur einen Schlüssel für weitere Motive im Jüngsten Gericht, dessen Konzentration auf die Seelenrettung in Kenntnis des Umfeldes Tintorettos nicht mehr verwundert, sie bietet auch eine Erklärung für die Kontrastierung des Gerichts mit der Gesetzesübergabe: Angesichts der Gebote erkennen die Menschen ihre Sündhaftigkeit und vollziehen damit den ersten Schritt zur Erlösung. An dieser Stelle vermag die übertragung der Lektüre auf die Gemälde nicht restlos zu überzeugen. Zum einen erklärt Richter nicht ganz befriedigend, warum statt der Anbetung die Vorbereitung zum Guß des Kalbes dargestellt ist; beide Themen sind gleichermaßen geeignet, die Sündhaftigkeit des Menschen zu illustrieren, zumal ohnehin allein der Betrachter, nicht das dargestellte Volk Israel, die Verbindung mit der Gesetzesübergabe erkennt (172). Genau genommen hat Moses die Tafeln auch noch nicht erhalten: das Engelgeschwader ist noch im Anflug, heilsgeschichtlich ist der Zeitpunkt also so gewählt, daß er noch in die Zeit ante legem, unmittelbar vor der Wende in die Zeit sub lege fällt. Tintoretto evoziert daher auch nicht das "menschliche Unvermögen, die Gesetze einzuhalten, weil ihnen der Glaube fehlt" (172). Es fehlen den Menschen noch die Gesetze.

über diese kritische Stelle, die einzige, an der Richter etwas übereilt argumentiert, sollte noch einmal nachgedacht werden, auch wenn die schlüssige Gesamtinterpretation dadurch nur modifiziert werden würde.

Ein Leitmotiv der Studie ist Tintorettos Wettkampf mit Michelangelos Jüngstem Gericht. Die Ausstattung von Künstlergräbern durch die Künstler selbst ist eine "dezidierte Selbstaussage" (48), die oft eine Konkurrenzsituation beschwört. Darüber hinaus war Tintorettos Auftragslage um 1555 nicht rosig, so daß die bewußte Provokation eines Vergleichs mit Michelangelo ihm möglicherweise neue Aufmerksamkeit einbringen sollte (60-63). Die Wahl des großen Formats, der Verzicht auf einen Rahmen - eine Annäherung an die Freskomalerei - mögen darauf hindeuten, "daß es Jacopo genügt haben mag, sich [...]wie ein venezianischer Michelangelo zu fühlen" (103). Dem ist ohne weiteres zuzustimmen, weitere Indizien sprechen für sich. Betrachtungen zur spezifischen künstlerischen Auseinandersetzung Tintorettos mit dem großen Florentiner wird man bei Richter jedoch vergeblich suchen. Im unmittelbaren Vergleich der Gemälde konzentriert Richter sich auf ikonographische Motive. Die Kritik an Michelangelos Werk betraf unter anderem die Aktdarstellungen und die flügellosen Engel. Tintoretto berichtigt diese 'Fehler', doch darin erschöpft sich seine künstlerische Auseinandersetzung mit Michelangelo sicher nicht. überlegungen zur Komposition, zum disegno, zu einzelnen Figurendarstellungen, kurz: zu allem, was der Begriff 'künstlerisch' auch noch impliziert, werden nur im Ansatz angestellt. Wenn der Untertitel nicht dezidiert auf die "künstlerische Rezeption" verweisen würde, hätte man sie in Anbetracht der Fülle von neuen Interpretationen und Anregungen in diesem verdienstvollen Beitrag Richters zur Tintoretto-Forschung noch nicht einmal vermißt.


Andrea Gottdang

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Andrea Gottdang: Rezension von: Susanne Richter: Jacopo Tintoretto und die Kirche der Madonna dell' Orto zu Venedig. Studien zur künstlerischen Rezeption von Michelangelos Jüngstem Gericht in Italien nach 1540, München: Scaneg 2000
in: KUNSTFORM 1 (2000), Nr. 2,

Rezension von:

Andrea Gottdang
Kunsthistorisches Institut, Universität Salzburg

Redaktionelle Betreuung:

Jan Mohr