Rezension

Wolfgang Promies: (Hg.) Lichtenbergs Hogarth. Die Kalender-Erklärungen von Georg Christoph Lichtenberg mit den Nachstichen von Ernst Ludwig Riepenhausen zu den Kupferstich-Tafeln von William Hogarth, München: Carl Hanser 1999,
Buchcover von Lichtenbergs Hogarth
rezensiert von Bernd Krysmanski, Dinslaken

Mit "Lichtenbergs Hogarth" liegt eine vollständige, moderne, kritische Ausgabe der unregelmäßig zwischen 1784 und 1796 im "Göttinger Taschen Calender" erschienenen Kommentare von Georg Christoph Lichtenberg zu William Hogarths Kupferstichen vor. Der Göttinger Aufklärer, Experimentalphysiker und Aphoristiker Lichtenberg ist zweifelsohne der wichtigste (und witzigste) Hogarth-Interpret seiner Zeit. Seine spätere "Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche" (1794-99) war bis weit ins 19. Jahrhundert hinein das meistgelesene seiner Werke. Später rückten Lichtenbergs "Sudelbücher" und Briefe in den Vordergrund des Interesses. Es wurde Zeit, sich der alten Hogarth-Erklärungen wieder verstärkt zu erinnern, denn die von Wolfgang Promies, dem langjährigen Vorsitzenden der Lichtenberg-Gesellschaft, neu aufgelegten Texte heben sich durch die Frische und Spontaneität des ersten Wurfs von der später verfaßten, ausgefeilteren, erheblich erweiterten und bekannteren "Ausführlichen Erklärung" ab, die im 20. Jahrhundert bereits mehrere Neuauflagen erlebte. Auch findet man in "Lichtenbergs Hogarth" eine ganze Reihe von Kommentaren zu wichtigen Hogarthschen Einzelblättern, die in der "Ausführlichen Erklärung" gar nicht besprochen werden.

Neben den Texten reproduziert der Band (in verkleinerter Wiedergabe) die rund 60 besprochenen Originalstiche Hogarths und (in Originalgröße) Ernst Ludwig Riepenhausens rund 100 Nachstiche von Bilddetails (meist charakteristischen Köpfen), wie sie in den Taschenkalendern als Begleitkupfer erschienen sind. Die Qualität der Abbildungen kann sich sehen lassen. Lediglich die im Vergleich zum Original stellenweise etwas zu weich geratene Reproduktion einiger Stiche, die offenbar drucktechnisch bedingt ist und einige Details nicht mit letztmöglicher Schärfe wiedergibt, wäre in Promies' Band zu bemängeln.

Zum Inhalt: Ein Vorwort oder eine Einführung des Herausgebers sucht man vergebens. Stattdessen gibt es einen ausführlichen kritischen Anhang mit einem knappen, zweiseitigen Nachwort, einem 78seitigen, dreispaltigen Anmerkungsteil und einem kurzen Namensregister. Die Lichtenberg-Texte werden in jener chronologischen Folge präsentiert, wie sie im Taschenkalender erschienen sind: Hogarths berühmte Stichfolgen - "Das Leben einer Liederlichen" ("A Harlot's Progress"), "Hogarths Leben des Liederlichen" ("A Rake's Progress"), "Hogarths Heirat nach der Mode", die vier Stiche der "Parlaments-Wahl", "Die Tageszeiten in vier Blättern" und "Die Folgen der Emsigkeit und des Müßiggangs" - findet man ebenso kommentiert wie wichtige Einzelblätter, etwa "Herumstreifende Comödianten", "Leichtgläubigkeit, Aberglauben und Fanatismus", "Das Thor von Calais", "Ausmarsch der Truppen nach Finchley", "Das Hahnen-Gefecht", "Southwark-Fair", "Der aufgebrachte Musiker" oder "Beer Street" und "Gin Lane". Daneben werden auch einige kleinere humorige Drucke besprochen, darunter "The laughing audience" und "Das Collegium Medicum" ("The Company of Undertakers").

Es fällt auf, daß Lichtenberg keineswegs alle Hogarth-Stiche erklärt hat: Die vielen Porträts, von denen es auch Kupferstichversionen gab, werden ebensowenig besprochen wie die frühen Stiche der 1720er Jahre oder Hogarths Versuche in der Historienmalerei. Und eine Erläuterung der "Four Stages of Cruelty" wollte Lichtenberg wohl wegen der allzu grausamen Motive dem deutschen Leser nicht zumuten. Im Vordergrund der Betrachtung steht nicht das oberflächliche Moralisieren, sondern eindeutig die Bildsatire und mit ihrem Unterhaltungswert und ihren Seitenhieben auf die Laster der Mitmenschen und die Torheiten der Zeit. Nach eigener Aussage war es Lichtenbergs Absicht, dem Betrachter all jene Motive zu erklären, "die mit der Zeit verlöschen werden, und wohl zum Theil schon verloschen sind". Dies ist ihm ohne Frage gelungen. Und weiter betont er: "Hogarths Werke haben dieses mit den Werken der Natur gemein, dass nichts bey ihnen ohne Absicht ist" - eine Erkenntnis, an die sich moderne Interpreten halten sollten, auch wenn es heutzutage etliche Forscher gibt, die sich an Interpretationsmodellen eher reiben, die primär von Autor-Intentionen ausgehen.

Zweifelsohne bereiten Lichtenbergs brillante, anschaulich-lebendige, in einem lockeren Schreibstil verfaßte, dem Geiste der Hogarthschen Vorlagen so nahe stehende Kommentare dem Leser auch heute noch Vergnügen. Eine Kostprobe: Wenn auf Hogarths extrem frankophobem Blatt "Frankreich" sich zu Beginn des Siebenjährigen Krieges die "lebendigen Mumien" im Soldatenrock am französischen Kanalufer zur Invasion in England sammeln - Franzosen, "die immer 'dirty' sagen wenn sie 'thirty' sagen sollen, wahre Bestien, die nichts verstehen als Französisch, und nichts essen als Wassersuppen, Schnecken und Frösche" -, sieht Lichtenberg an ihnen "Ueberall mehr Lumpen als Rock, und mehr Rock als Substanz. [...] als schiffte man sie ein, um Krankheiten nach England zu verpflanzen, oder sie zu versenken um die Hayfische zu vergiften. Kan man ein schöneres kaltes Fieber sehen, als den langen Alten in der Mitte? Man hört die Knie klappern und sieht die blauen Nägel. Und der Kleine neben ihm! Nehmt ihm den Hut, rasirt ihm die Mähne, und steckt ihm eine von den Rippen, die oben im Fenster hängen, quer durch den Mund, was für ein Cabinetsstück von 'Memento mori'" (253).

Vorurteilsfrei sind die Kommentare also nicht. Gelegentlich läßt Lichtenberg auch durchblicken, welche Freude es ihm bereitet, sexuell getönte Motive zweideutig zu umschreiben, ohne allzu konkret zu werden. So kommentiert er den in der sechsten Szene von "A Harlot's Progress" gezeigten unanständigen Griff des Pastors unter das Kleid der neben ihm sitzenden Hure mit zwei englischen Versen "aus einem übrigens schlechtem Gedicht: His left hand spills the wine, his right - / I blush to add - is out of sight". Verständnisprobleme, die der heutige Leser mit den über 200 Jahre alten Texten haben könnte, versucht der von Wolfgang Promies und einem Studententeam bearbeitete Anmerkungsteil auszuräumen: Zu etlichen heute nicht mehr geläufigen Wörtern, zu französischen Redewendungen, zu Namen von Zeitgenossen, zu historischen Daten, zu Anspielungen auf klassische oder biblische Zitate sind dort umfangreiche Kommentare zu finden. Unzählig sind auch die Verweise auf analoge Aussagen, Wortbildungen und Redewendungen, die Lichtenberg in seinen Schriften, Tagebüchern und Briefen sonst irgendwo verwendet hat. Die Erklärungswut kannte offenbar keine Grenzen, denn selbst Begriffe wie "in Folio", "Schriftgelehrter", "Pharisäer", "Fusel", "Caricatur", "Gravitation", "alias", "Chaos" und "pro oder contra" werden im Anhang erläutert.

Daß für den kritischen Apparat fast nur die Ergebnisse der deutschen Lichtenberg-Forschung und einige wenige englische Schriften des 18. Jahrhunderts ausgewertet wurden, nicht jedoch die neuere anglo-amerikanische Sekundärliteratur, hat für den sachlich-historischen Inhalt mancher Anmerkung Konsequenzen: So vermißt man im Anhang zum Stichwort "Liotard" einen Hinweis darauf, daß dieser Schweizer Künstler in Hogarths "Beer Street" gar nicht dargestellt sein kann, weil er türkische Tracht und einen dichten Vollbart getragen hat. Die Lebensdaten des Friedensrichters Sir John Gonson (gest. 1765), des Fechtmeisters Du Bois (gest. 1734), des Preisboxers John Broughton (1705-1789), des Lords Albemarle Bertie (gest. 1765), des Honigkuchenbäckers Tiddy Doll (gest. 1752) oder des Sammlers John Gulston (gest. 1786) sind nicht - wie behauptet - gänzlich "unbekannt". Die "Buchstaben F.C." stehen - als damals gängiges Brandzeichen einer verurteilten Prostituierten - wohl eher für 'Female Convict' oder 'Female Criminal' als für "Fanny Cock", wie Lichtenberg glaubt. Der Begriff "Tabernakel", wie er in der Erläuterung zu "Credulity, Superstition and Fanaticism" auftaucht, bezeichnet keineswegs das Sakramentshäuschen in katholischen Kirchen, sondern ein methodistisches Gotteshaus, nämlich George Whitefields Londoner "Tabernacle". Und mit "Giffard" meint Lichtenberg nicht Andrew Gifford, sondern Henry Giffard, den 1699 geborenen Manager des Theaters in Goodman's Fields. Daß bei der Abfassung der Anmerkungen nur Germanisten und keine Kunsthistoriker am Werk waren, ist schade, denn letztere hätten ergänzende Hinweise auf Bildzitate und Motiventlehnungen in Hogarths Bildern geben können, die Lichtenberg größtenteils entgangen sind.

Die aufgezeigten Mängel sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, welch unerschöpfliche Fülle an Information der kritische Anhang insgesamt bietet: Ob wir nun erfahren, daß mit dem Wort "Hemling" (oder Hämling; für einen verschnittenen Widder) eine schon um 1400 gebräuchliche Umschreibung für "Eunuch" gemeint ist, die im 18. Jahrhundert als gängiges Schimpfwort galt, oder daß es sich bei dem Begriff "Archangel" nicht etwa um einen englischen Erzengel, sondern um die russische Stadt Archangelsk handelt - fast immer sind derartige Hinweise überaus nützlich und dem Textverständnis insgesamt dienlich.

Alles in allem handelt es sich um einen gründlich edierten Band, dessen Informationsfülle es vor allem dem deutschen Forscher in Zukunft ermöglichen wird, sich ein vollständiges Bild von Lichtenbergs Hogarth-Erklärungen zu machen. Darüber hinaus dürfte das Buch genügend Anlaß dazu geben, sich verstärkt mit satirischen Details in Hogarths Werken zu beschäftigen. Nicht zuletzt bietet "Lichtenbergs Hogarth" eine "einzigartige Kombination aus Lesevergnügen und Augenschmaus", wie es gar nicht so untreffend im Klappentext heißt. Dies lohnt die Lektüre allemal.


Bernd Krysmanski

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Empfohlene Zitierweise:

Bernd Krysmanski: Rezension von: Wolfgang Promies: (Hg.) Lichtenbergs Hogarth. Die Kalender-Erklärungen von Georg Christoph Lichtenberg mit den Nachstichen von Ernst Ludwig Riepenhausen zu den Kupferstich-Tafeln von William Hogarth, München: Carl Hanser 1999
in: KUNSTFORM 1 (2000), Nr. 2,

Rezension von:

Bernd Krysmanski
Dinslaken

Redaktionelle Betreuung:

Jan Mohr